Benedict Weskott

M.A., Freie:r Journalist:in, Berlin

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Rezension

„In Amber“: Hercules und Anohni – eine Love Affair

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Für viele war der Track Blind von Hercules & Love Affair eine Offenbarung: Discomusik, aber modernisiert für die frühen 00er Jahre. Aber obwohl der Song solche Wellen geschlagen hat, kehrt die Sängerin ANOHNI erst jetzt – 14 Jahre später – zurück auf eine Platte des US-Produzenten Andy Butler, der Hercules & Love Affair mit immer wechselnden Sänger*innen betreibt.
„One“ heißt einer der neuen gemeinsamen Tracks. Was hier noch nach dem Trademark-Sound von Hercules & Love Affair klingt, nach queerer Party und Ekstase, ist in den restlichen 11 Tracks des Albums In Amber kaum zu finden. Für Andy Butler war das eine Grundsatzentscheidung.

„In den letzten fünf Jahren gab es eine Menge Chaos. Ich hatte das Gefühl, dass die Welt chaotischer war als je zuvor. Und es ist einfach so viel passiert, dass ich mich nicht in der Lage fühlte, eine fröhliche Platte zu machen, zu der alle glücklich tanzen können.“

Aus vielen Tracks auf In Amber klingt ein düsterer Nihilismus, der den Zustand der Welt schonungslos offenlegt. ANOHNI ist für diese wütend-anklagende Attitüde spätestens seit ihrem brillanten, letzten Album Hopelessness bekannt, mit dem sie 2016 von der introvertierten Kammermusikerin zur lauten Klimaaktivistin, Kriegsgegnerin und Menschenrechtlerin wurde. Anders ist es bei Andy Butler, der bisher vor allem mit der Wahl seiner Gaststimmen aus queeren Subkulturen politische Akzente gesetzt hat. Anfangs dachte Butler, die Neu-Ausrichtung würde nicht zu Hercules & Love Affair passen. ANOHNI gab dann den Ausschlag, es doch zu versuchen.

„Sie hat eine gewisse Spontaneität, eine rebellische Freiheit im Umgang mit Kreativität, wie ich sie noch nie erlebt habe. Und in den Songs, die ANOHNI singt, gibt es diese konfrontative Ebene. In gewisser Weise führt sie also mit ihren Liedern den Sturm an.“

In sechs Songs singt ANOHNI jetzt gegen den Ökozid, die Zerstörung der Lebensgrundlagen auf der Erde, gegen Konformität, Faschismus, Transfeindlichkeit und andere Formen der Unterdrückung – explizit und trotzdem lyrisch. Dazu Drone, Metal, Punk und experimentelle elektronische Musik – und dann wieder ruhige, klare Klaviermelodien. Außerdem konnte ANOHNI Andy Butler dazu ermutigen, zum ersten Mal selbst zu singen.

„Dass ich selbst singe, ist eine Art Anerkennung dafür, dass ich ein Geschichtenerzähler bin, auch wenn ich meine Songs meistens nicht selbst singe. Es ist eine andere Erfahrung, aber es ist aufregend für mich, nach fünf Alben im Rampenlicht zu stehen. Zum jetzigen Zeitpunkt fühlte es sich mit dem Projekt, mit Hercules & Love Affair, ganz natürlich und richtig an, mein Herz auszuschütten.“

Neben den Stimmen von Andy Buttler und ANOHNI ist in zwei Songs auch die Folkmusikerin Elín Ey zu hören. Aber es ist immer ANOHNI, um die das Album kreist, die alles zusammenhält. Ohne sie wäre diese Platte undenkbar, das sagt Andy Butler selbst. Dass die beiden wieder zusammengefunden haben, ist also die eigentliche Sensation. Der neue Sound auf In Amber funktioniert und ist in sich logisch. Zum nächsten Album wieder tanzen zu können, am besten zu Butler und ANOHNI, wäre aber auch nicht schlecht.

(17.06.2022, Tonart, Deutschlandfunk Kultur)