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Benedict Weskott

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Streit um Kassensitze - Ärger für angehende Psychotherapeuten

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Seit etwas über einem Jahr ist Niklas Lottes ausgebildeter Psychotherapeut. Und schon jetzt müssen neue Patient*innen über ein Jahr auf einen Termin bei dem 30-Jährigen warten. Seine Gemeinschaftspraxis liegt im Rhein-Erft-Kreis zwischen Köln und Mönchengladbach; ein Gebiet, das laut der offiziellen Statistik deutlich überversorgt ist: Rund 100 Psychotherapeut*innen praktizieren hier heute, der festgelegte Bedarf wird damit um 64 Prozent übertroffen. Wie viele Therapeut*innen welche Region braucht, das wurde vor gut zwanzig Jahren in der Bedarfsplanung für ganz Deutschland festgelegt und seitdem mit komplizierten Berechnungen anhand der aktuellen Bevölkerungszahlen weitergeschrieben. Aus Niklas Lottes' Sicht geht dieses Berechnungssystem der Kassenärztlichen Vereinigungen, kurz KV, aber an der Realität vorbei.

„Das Problem ist sozusagen, dass der Bedarf einfach bei den Krankenkassen und KVen anders berechnet wird wie bei den Therapeuten. Also die Therapeuten gucken auf ihre Wartelisten und gucken, wie viele Patienten sie da haben. Die Kassen und die KVen gucken halt, was sie damals vereinbart haben.“

„Kassensitz“ lautet für Niklas Lottes das Stichwort, denn darüber können Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen ihre Tätigkeit überhaupt erst mit den Krankenkassen abrechnen. Wer Therapeut*innen ohne Kassenzulassung besucht, muss selbst zahlen oder aufwendige Anträge bei der eigenen Krankenkasse stellen. Weil Deutschland laut der offiziellen Zahlen aber in nahezu allen Ecken überversorgt mit Psychotherapeut*innen ist, gibt es nur in einer Handvoll Landkreise noch freie Kassensitze. Anderswo können sie nur von Kolleg*innen, die in Rente gehen, übernommen werden – und zwar laut Niklas Lottes zu Preisen von bis zu 100.000 Euro für einen halben Kassensitz in Köln. Aus Sicht von Dr. Anke Schliwen von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ist das aber eher ein Problem der Nachfrage.

„Die Psychotherapeuten haben eine große Nachfrage nach Kassensitzen. Wir planen das, was sozusagen in der Versorgung benötigt wird. Wir planen aber nicht das, was ausgebildet wird. Das heißt, es gibt sehr viel mehr Psychotherapeuten, die aus dem System herauskommen, als letztendlich Kassenvertragssitze in der vertragsärztlichen Versorgung frei sind.“

Diese Situation hält Niklas Lottes für paradox. In einer Petition fordert er mit drei weiteren, jungen Psychotherapeut*innen ein faireres Vergabesystem. Ihren Forderungen zufolge soll der Preis für einen Kassensitz gedeckelt und nur noch ein Kassensitz pro Person erworben werden können. Derzeit haben schon 55.000 Menschen unterschrieben und berichten in den Kommentaren von ähnlichen Problemen.

„Es ist ja etwas absurd: Auf der einen Seite hat man ziemlich viele arbeitswillige Therapeuten, auf der anderen Seite hat man sehr viele Patienten, aber viele von diesen Therapeuten werden überhaupt nicht richtig rangelassen an die Patienten, weil sie eben diese Kassensitze nicht haben. Das ist eine sehr paradoxe Situation aus unserer Sicht.“

Laut aktueller Bedarfsberechnung kommt Kassel mit 160 Therapeut*innen auf eine Versorgung von fast 250 Prozent. München als Deutschlands drittgrößte Stadt deckt mit 1048 Kassensitzen ebenfalls mehr als das doppelte des Bedarfs und die Lausitz ist demnach mit 19 Psychotherapeut*innen genau richtig versorgt. Nur am Niederrhein gibt es noch mehrere Landkreise mit Unterversorgung. Doch kann das sein? Die Bundestagsabgeordnete Dr. Kirsten Kappert-Gonther von Bündnis 90/Die Grünen war selbst 25 Jahre Psychotherapeutin und glaubt nicht an diese Zahlen. Sie plädiert für eine neue Berechnungsgrundlage und verweist auf eine Studie zur Weiterentwicklung der Bedarfserhebung.

„Diese Studie hat von etwa 2.000 zusätzlichen, notwendigen Psychotherapieplätze gesprochen und gekommen sind 776. Und da sieht man ja schon die Diskrepanz. Und es gibt andere Untersuchungen, die sprechen jetzt schon von einem Bedarf von zusätzlichen 3.000 Plätzen.“

Kappert-Gonther sagt einen weiter steigenden Bedarf voraus – durch die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen und auch durch die Corona-Situation, deren Auswirkungen auf die psychische Gesundheit sich möglicherweise erst verzögert zeigen. Aus Sicht der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sollen psychotherapeutische Sprechstunden und Akutbehandlung Verbesserungen bringen – zwei neue Möglichkeiten vorzusprechen, die 2017 eingeführt und laut Anke Schliwen die Wartelisten deutlich verkürzen werden.

„Es gibt sicherlich auch im Bereich der Psychotherapie eine gewisse angebotsinduzierte Nachfrage und dann aber auch eine große Nachfrage gerade bei Jüngeren, wo manchmal die Unterscheidung, was ist tatsächlich therapeutischer Bedarf und was nicht, gar nicht so einfach ist. Und im Rahmen dieser psychotherapeutischen Sprechstunde klärt sich aber erst mal, ist es tatsächlich ein psychotherapeutischer Behandlungsbedarf oder ist die gegebenenfalls woanders besser aufgehoben und braucht gar nicht so unbedingt eine Richtlinientherapie.“

Momentan spricht Kirsten Kappert-Gonther von den Grünen aber noch von durchschnittlich vier Monaten Wartezeit auf einen ambulanten Therapieplatz. Wenn aber genug Menschen Psychologie studieren und viele Menschen auf eine Therapieplatz warten, wieso finden beide Seiten dann nicht zusammen? Für Niklas Lottes und seine Mitstreiter*innen entsteht die Versorgungslücke auch durch die hohen Preise für Kassensitze. Der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ist diese Thematik bewusst.

„Die Vergabe von Kassenarztsitzen ist auch so ein System von Angebot und Nachfrage, es ist marktwirtschaftlich, muss man ganz ehrlich sagen. Das heißt, dass ein junger Psychotherapeut, der gerade aus der Ausbildung kommt, sich gegebenenfalls mit einem nicht minder großen Kredit in eine Praxis einkaufen muss.“

Niklas Lottes sieht hier eine eine systematische Benachteiligung von Berufseinsteiger*innen, die zwischen Selbstständigkeit und Anstellung keine wirkliche Wahl hätten.

„Nach der Ausbildung, die ja schon Unmengen von Summen erst mal verschlingt, kommt man da raus, hat die Möglichkeit sich anzustellen, hat natürlich oft den Wunsch, einen Sitz zu kaufen, hat das Geld aber dafür kaum oder auch wenig Chancen, da einen zu bekommen im Endeffekt.“

Aus seiner Sicht könnten diese Bedingungen auch der Grund für den Trend zur Anstellung sein: Von den 25.000 Psychotherapeut*innen in Deutschland arbeiten mittlerweile gut sieben Prozent in Angestelltenverhältnissen, also in Gemeinschaftspraxen oder Medizinischen Versorgungszentren auf einem Kassensitz, der ihnen nicht selbst gehört. Dort profitieren sie von Urlaubszeiten, Krankenversicherung oder besserer Vereinbarkeit von Beruf und Familie, verdienen aber auch deutlich weniger Geld. Um die Wahlmöglichkeit zu verbessern und die Kosten für Kassensitze zu senken, schlägt die grüne Bundestagsabgeordnete Kappert-Gonther eine deutliche Ausweitung der Zahl von Kassensitzen vor.

„Wenn man zusätzliche psychotherapeutische Plätze ausloben würde – und das würde ja dem Bedarf entsprechen –, dann hätten es die Kolleg*innen leichter, auch an die entsprechenden Sitze zu kommen.“

Für die Patient*innen bedeutet das kürzere Wartezeiten auf eine Behandlung und ein vielfältigeres Angebot an Therapieplätzen. Nach der Anhebung der Kassensitze vom letzten Jahr scheint es aber derzeit nicht so, als würde sich an der Kassensitzvergabe oder der Bedarfsberechnung grundsätzlich etwas ändern – vor allem solange Politik und KVen von Corona in Atem gehalten werden. Niklas Lottes und seine drei Mitstreiter*innen wollen deshalb weiter das Gespräch suchen, um ihr Anliegen voranzubringen.

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Erstellt am 09.02.2021
Bearbeitet am 17.02.2021

Quelle
https://www.deutschlandfunkkultur.d...

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