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Kein Vorwärts in der Ukraine

Das Stadtzentrum von Donezk

Ein Brunnen im Stadtzentrum von Donezk. Er ist leer. Jugendliche haben ihn zur Halfpipe umfunktioniert. Auf BMX-Fahrrädern üben sie hier ihre neuesten Tricks. Um die Ecke werden auf einem Trödelmarkt Gemälde verkauft. Hoch im Kurs stehen Naturmotive: In Öl gemalte Seerosen, Herbstwälder und Stillleben mit Blumensträussen. Kaum etwas stört die Ruhe. Nur vor einigen wenigen Gebäuden stehen bewaffnete Kämpfer der selbsternannten Volksrepublik Donezk (DNR). Obwohl immer wieder auch im Zentrum Gefechtslärm aus den Vororten zu hören ist, ist der bereits mehr als zwei Jahre dauernde Konflikt mit der Ukraine zur Routine geworden.

Früher war Donezk eine Millionenmetropole. Heute weiss niemand genau, wie viele Menschen noch in der kriegsversehrten Stadt wohnen. Vor vier Jahren wurde die Stadt noch für die Austragung der Fussball-Europameisterschaft modernisiert. Fastfood-Ketten eröffneten Filialen, ausländische Unternehmen siedelten sich an, Einkaufszentren schossen in die Höhe. Vergilbte Werbeplakate sind alles, was davon geblieben ist. Hie und da überklebt mit einem Bild von Alexander Sachartschenko, dem „Ministerpräsidenten" der von Moskau unterstützen Volksrepublik.

Mehr als 9400 Todesopfer hat der Konflikt in der Ostukraine seit seiner Eskalation im Frühjahr 2014 bislang gefordert. Immer noch sterben Zivilisten und Soldaten auf beiden Seiten. Entlang der 500 Kilometer langen Kontaktlinie, welche Separatisten und ukrainische Truppen voneinander trennt, stehen sich zehntausende gut bewaffnete Truppen in einem dicht besiedelten Gebiet gegenüber. Trotz Unterzeichnung des zweiten Minsker Friedensabkommens im Februar 2015.

Ohne finanzielle, militärische und humanitäre Unterstützung aus Russland könnten die DNR und die benachbarte selbsternannte Volksrepublik Luhansk (LNR) nicht überleben. Russland liefert die Waren, die in den Supermärkten gekauft werden. Währung und Zeitzone haben die Separatisten ebenfalls aus Moskau übernommen. Ganz gelingt die Teilung von der Ukraine jedoch nicht. Da die Eisenbahn auf Seiten der Separatisten wie auch auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet verläuft, arbeiten die Bahnangestellten an drei Tagen pro Woche für die Ukraine und an zwei für die DNR. Ihr Gehalt können sie aber nur auf Umwegen, nach einer Überquerung der Checkpoints, beziehen. Die Volksrepubliken wurden aus dem Bankensystem ausgeschlossen. Auf den zahlreichen Bankomaten in Donezk liegen dicke Staubschichten. Ukrainische Unternehmen, welche Geschäfte mit den Separatisten machen, stehen im Vorwurf Terroristen zu finanzieren. Zudem hat Kiew die selbsternannten Volksgebiete mit einer Wirtschaftsblockade belegt und überweist weder Gehälter noch Sozialleistungen.

Vor allem wegen der anhaltenden Blockade ist der Unmut im Donbass auf Kiew gross. Die Menschen fühlen sich im Stich gelassen und vergessen. Kritiker sind aber längst verstummt. Gegner der neuen Machthaber haben die DNR verlassen. „Wer noch hier wohnt und eine andere Meinung hat, schweigt lieber", sagt Maria Kalus, die von Donezk nach Kiew gezogen ist. Gemäss dem UNO Hochkommissariats für Flüchtlinge wurden bis jetzt rund 1,8 Millionen Menschen zu Binnenflüchtlingen. Kiew muss diese integrieren. Die finanzielle Unterstützung von umgerechnet 20 bis 25 Euro im Monat, die es vom Staat gibt, reichen aber kaum zum Leben. Die bürokratischen Hürden dafür sind sehr hoch. Manchmal dauert es laut Hilfsorganisationen mehrere Monate, bis die Auszahlung der Gelder anläuft.

Maria Kalus hatte Glück. In Kiew fand sie Arbeit als Journalistin. Der Neuanfang ist ihr trotz des Konflikts leicht gefallen. Ihre Jugend sei sicher ein Vorteil, räumt sie ein. Woher man kommt, interessiert heute kaum mehr. Vor zwei Jahren war dies anders. „Auf Flüchtlinge aus dem Donbass wurde teilweise sogar aggressiv reagiert", erzählt die junge Frau. Was die Situation erleichtert ist, dass die Migration nicht sichtbar ist. „Wir sind alles Ukrainer", sagt Dmitri Kortschak, welcher in der staatlichen Regionalentwicklung arbeitet.

Die Unzufriedenheit über die prekäre wirtschaftliche Lage im Land ist dagegen um einiges grösser. Die Ukraine befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise und ist auf Kredite internationaler Geldgeber wie die USA, die EU und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) angewiesen. Als Gegenleistung fordern diese von der Regierung schmerzhafte Reformen: Eine Anhebung des Pensionsalters oder die Streichung staatlicher Subventionen für die Haushaltsenergiekosten. Der Krieg im Osten und der Verlust Russlands als wichtigsten Handelspartner haben dazu geführt, das der Lebensstandard der Menschen gesunken ist. Der Durchschnittlsohn lag im April 2016 noch umgerechnet bei knapp über 160 Euro. 2013 waren es noch rund 300 Euro. Von 0,5 Prozent Ende 2013 kletterte die Inflation bis Ende 2015 auf 43 Prozent. Vom Freihandelsabkommen mit der EU, welches Anfang 2016 in Kraft getreten ist, vermag die Wirtschaft noch nicht zu profitieren. Das Investitionsklima ist schlecht, die Rechtsunsicherheit hoch. Vor diesem Hintergrund sinken die Zustimmungsraten für Petro Poroschenko. Fast 70 Prozent gaben in einer Umfrage Misstrauen gegenüber dem Präsidenten an. Enttäuschung herrscht vor allem über die quälende Reformresistenz ukrainischer Politiker. Im vergangenen Herbst hatte der IWF deswegen bereits die Auszahlung einer Kredittranche ausgesetzt. Wichtiger als ohne Visum in die EU reisen zu können, wären Arbeitsplätze für die Leute, heisst es.

Kritik an der Regierung üben auch viele, die im November 2013 auf dem Maidan in Kiew standen und gegen das alte, korrupte Regime unter Ex-Präsident Viktor Janukowitsch demonstrierten. Nach wie vor würden weite Teile der ukrainischen Wirtschaft von Oligarchen kontrolliert, immer noch dominieren die Seilschaften der alten Eliten die P0litik, kritisiert Taras Tschornowil, Politologe und ehemaliger Parlamentsabgeordneter aus der westukrainischen Stadt Lwiw. Seit ihrer Unabhängigkeit 1991 kämpft die Ukraine mit den selben Problemen. Korruptionsbekämpfung, Justizreform und Privatisierungen kommen seit 25 Jahren nicht voran.

„Niemand hätte sich zu Beginn der Proteste auf dem Maidan vorstellen können, dass für die Ukraine ein derart langer und schmerzvoller Weg beginnt", erinnert sich Hanna Hopko, ehemalige Maiden-Aktivistin aus Lwiw und nun Parlamentsabgeordnete. Entzündet hatten sich die Bürgerproteste im November 2013 an der Frage, ob sich die Ukraine künftig enger an Europa oder an Russland anschliessen sollte. Die damalige Regierung unter Ex-Präsident Viktor Janukowitsch hatte überraschend die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union verschoben. Proeuropäische aber auch rechtsradikale Demonstranten errichteten darauf auf dem Maidan, mitten in der Kiewer Innenstadt eine Zeltstadt, die sich trotz exzessiver Polizeigewalt während mehreren Wochen nicht auflöste. Im Gegenteil: Die „Revolution der Würde", forderte eine Ablösung des korrupten Regimes. Ein Gefühl von „Jetzt oder Nie" hätten sie damals verspürt, erzählt Kortschak, der damals in Lwiw studierte und gemeinsam mit seinen Freunden regelmässig in die Hauptstadt fuhr um auf dem Maidan zu demonstrieren.

Mitte Februar 2014 sass Kortschak im Zug von Lwiw nach Slawutitsch, 180 Kilometer nördlich von Kiew, um dort den Geburtstag seines Vaters zu feiern, als die Fahrt abrupt mitten auf einem Feld endete. Die Regierung stoppte alle Verbindungen aus der Westukraine, damit die Protestierenden keine zusätzliche Unterstützung nach Kiew holen konnten. Dort lieferten sich Demonstranten und Sicherheitskräfte heftige Strassenkämpfe. Scharfschützen schossen in die Menge. Innerhalb von drei Tagen starben mindestens 77 Menschen. Wenig später verliess Präsident Janukowitsch fluchtartig das Land und setzte sich in die südrussische Stadt Rostow am Don ab. Unmittelbar danach begann Russland mit der Annexion der Krim, prorussische Separatisten besetzten im Osten des Landes Gebäude der lokalen Administration und riefen die Volksrepubliken in Donezk und Luhansk aus.

Die damaligen Ereignisse führten dazu, dass in der Gesellschaft nun die eigene ukrainische Identität stärker betont wird, meint der einstige Parlamentsabgeordnete Tschornowil. Früher war es die Kultur und Geschichte der Sowjetunion, die eine gemeinsame Klammer für die Menschen aus dem Westen und dem Osten der Ukraine bildete und worauf sie sich beziehen konnten. Besonders ausgeprägt waren die Verbindungen nach Russland im Donbass. Immer noch wird in der traditionellen Machtbasis von Ex-Präsident Janukowitsch der Stolz auf die Vergangenheit als Industrieregion, auf die Schwerindustrie und Hochöfen hochgehalten. In der Westukraine waren dagegen ukrainischer Nationalismus und eine Integration mit Europa populärer. Anlass für Konflikte bietet insbesondere das unterschiedliche Geschichtsbild, das durch Politik und medialer Propaganda instrumentalisiert wird. So fürchten die Menschen im Donbass, dass sie unter der jetzigen ukrainischen Regierung dem Sieg der UdSSR im Zweiten Weltkrieg nicht mehr gedenken können. Die Separatisten und die russischen Medien sprechen von einem „faschistischen Putsch" und einer „Junta", die in Kiew nun an der Macht sei.

Vor allem das Verhältnis zwischen Ukraine und Russland hat durch die Propaganda stark gelitten. Die Verflechtungen zwischen den beiden Ländern sind auch im familiären Bereich traditionell sehr eng. Nun heisst es, man sei im Krieg, Russland ein Aggressor. Immer wieder ist von Streit zwischen Verwandten zu hören, Kontakte werden abgebrochen. Auch Kortschak und seine Frau, die russische Staatsbürgerin ist, haben beschlossen, das Thema Politik aus ihren Diskussionen lieber auszuklammern.

Bis die tiefen Gräben, die sich in manchen Familien und Partnerschaften geöffnet haben, wieder geschlossen sind, ist noch ein weiter Weg. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Die Herausforderungen für die ukrainische Regierung sind gross. Die Umsetzung des Minsker Abkommens stockt. Kiew wirkt im Bezug auf die selbsternannten Volksrepubliken ratlos. Nächster Schritt wäre die Verabschiedung einer Verfassungsänderung, welche den besetzen Gebieten im Donbass eine grössere Autonomie gewähren soll. Politisch ist diese im Parlament jedoch kaum durchsetzbar. Danach sollen in der DNR und LNR Wahlen stattfinden, damit könnten sich die Separatistengebiete jedoch weiter konsolidieren, wird befürchtet. So lange die Separatisten an der Macht bleiben, ist für Journalistin Kalus eine Rückkehr nach Donezk undenkbar. Er liebe sein Land, meint Kortschak. Sein Urteil gegenüber der Politik fällt dagegen hart aus: „Seit ihrer Unabhängigkeit vor 25 Jahren hatte die Ukraine noch keine Regierung, auf welche die Bürger stolz sein konnten".


Immer wieder der Maidan-Platz

Der Maidan-Platz im Herzen Kiews stand im Herbst 2013 nicht zum ersten Mal im Zentrum der Auseinandersetzung. Noch bevor die Ukraine ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärte, im Oktober 1990, begannen Studenten hier einen Hungerstreik und forderten unter anderem, dass die Ukraine ihren Rückzug von den Verhandlungen um einen neuen Unionsvertrag erklärte, mit dem Michail Gorbatschow die dahinserbelnde Sowjetunion retten wollte. Die Versuche der Regierung die Proteste aufzulösen erwiesen sich als vergeblich. Nach dem Druck moderater Kräfte auf die regierenden Kommunisten wurden der damalige Regierungschef entlassen.


Nationaldemokratische Kräfte erhoben bereits damals die Forderung nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Nach dem Putschversuch im August 1991 durch kommunistische Hardliner gegen Gorbatschow fand dann am 24. August im Kiewer Parlament eine Abstimmung über die Unabhängigkeit des Landes statt. In einem Referendum im darauffolgenden Dezember wurde das Resultat bestätigt: Mehr als 90 Prozent stimmten für eine souveräne Ukraine. Zum Präsidenten gewählt wurde Parlamentspräsident Leonid Krawtschuk. Vielen Ukrainern galt er am ehesten dazu geeignet, um zwischen den verschiedenen Regionen einen Ausgleich herbeiführen zu können. 1994 wurde Krawtschuk von Leonid Kutschma im Amt abgelöst. In dessen Regierungszeit fallen viele der umstrittenen Privatisierungen ukrainischen Staatseigentums. Davon profitierten die Oligarchen, deren Clans in der Folge einen immer grösseren und verheerenderen Einfluss über die ukrainische Politik gewannen.


Bei den Präsidentschaftswahlen 2004 traten der Reformer Viktor Juschtschenko und Viktor Janukowitsch, ein Vertreter von Kutschmas oligarchisch geprägtem Regime, gegeneinander an. Im Wahlkampf wurde Juschtschenko Opfer einer mysteriösen und bis heute nicht aufgeklärten schweren Dioxinvergiftung. Nach einer gefälschten Wahl erklärte sich sein Janukowitsch zum Sieger. Erneut entlud sich darauf auf dem Maidan die Empörung der Bevölkerung: Die „Orangene Revolution" führte dazu, dass der zweite Wahlgang wiederholt wurde und Juschtschenko zum Präsidenten gewählt wurde. Er schaffte es allerdings nicht, das während der „Orangenen Revolution" erworbene Vertrauen in politische Erfolge umzusetzen. Mit Julia Timoschenko, seiner engsten politischen Weggefährtin kam es zum Zerwürfnis. Die fehlende Aussöhnung zwischen Regierung und Opposition führte zu einem politischen Stillstand im Land. Auch im Kampf gegen die Korruption gab es kaum Fortschritte. 2010 wurde der einstige Hoffnungsträger Juschtschenko abgewählt und von Janukowitsch abgelöst. Dieser blieb Präsident bis ihn 2014 wiederum eine Revolution auf dem Maidan aus dem Amt fegte.


Der Artikel erschien zuerst am 18.August 2016 im Sonntag 

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