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30 Jahre danach: Leben im Schatten von Tschernobyl

Am einem neuen Sarkophag der die nächsten 100 Jahre halten soll wird gearbeitet

An einem neuen Sarkophag für die nächsten 100 Jahre wird gearbeitet / Bild: Beatrice Bösiger

Nowosybkow. „Schauen Sie, wie schön es hier ist. Die Vögel singen, es riecht gut", sagt Viktor Streljukow. Er hätte nichts dagegen, bis ans Ende seiner Tage hier zu wohnen, sinniert der kleine, kräftige Mann vor einem Birkenwäldchen, in dem der Friedhof seines Heimatdorfes Swjatsk liegt. Auf den Gräbern seiner Eltern liegen frische Blumen. Auch die anderen Grabstätten sind gut gepflegt.

Einzig ein intensives Piepsen stört die Ruhe. Es ist ein Geigerzähler, der ausschlägt. Swjatsk gehört zur Region Brjansk ganz im Westen Zentralrusslands, die durch die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl am 26. April 1986 wie kein anderes russisches Gebiet radioaktiv verstrahlt wurde. Und noch heute verstrahlt ist.

Streljukow wohnt im benachbarten Nowosybkow. Von Swjatsk ist abgesehen vom Friedhof kaum noch etwas zu sehen. Nach dem Super-GAU wurde das Dorf evakuiert. Wie man sich erzählt, allerdings nur, weil sich David Dragunski, berühmtester Sohn des Dorfes und zweifach dekorierter Held der Sowjetunion, dafür stark gemacht habe. Seine Statue steht nun im Zentrum von Nowosybkow.

Verseucht, und doch dicht bevölkert

Swjatsk war aber eine Ausnahme. 1986 wurden zwar besonders betroffene Gebiete zu sogenannten Umsiedlungszonen erklärt. Evakuieren ließen die sowjetischen Behörden in der Region aber kaum jemanden. Heute leben in Russland immer noch 1,6 Millionen Personen in Siedlungen, die offiziell als verseucht gelten. Allein in der Region Brjansk sind es 330.000.

Seit 30 Jahren müssen die Menschen hier mit der Kontamination leben. Manche, wie Streljukow, geben sich stoisch, andere, wie ein Radiomoderator, der am Freitagabend seine Zuhörer zur „Radioaktiven Show" begrüßt, betont sarkastisch. Im Alltag wird den Folgen der Reaktorkatastrophe aber kaum Beachtung geschenkt.

Im Wald zwischen Nowosybkow und dem in südwestlicher Richtung liegenden Dorf Slynka warnen zwar Schilder vor der Radioaktivität. Unmittelbar daneben steht aber ein hölzerner Picknicktisch mit Bänken. Am Wegesrand gibt es Feuerstellen, Birkensaft wird gesammelt. Eigentlich eine regionale Spezialität, die auch in der Volksmedizin Verwendung findet, ist der Saft nun ein Gesundheitsrisiko.

„Nach geltendem Gesetz dürfte sich eigentlich gar niemand hier im Wald aufhalten", sagt Alexander Goworowski, Jurist bei der lokalen Forstbehörde. Trotzdem wird Holz geschlagen und gelangt ohne Überprüfung auf Kontamination in den Handel. Mit dem Holz zu heizen kann aber gefährlich für die Gesundheit sein, kann durch das Verbrennen doch zusätzliche Radioaktivität freigesetzt werden. Goworowski informierte die Behörden. Passiert sei nichts. „Die einzelnen Ämter schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu", klagt der Jurist. Niemand will zuständig sein. Bis nach Moskau und in die südrussische Region Krasnodar wurde Holz aus den radioaktiv verschmutzten Wäldern rund um Nowosybkow bereits verkauft. Die Besitzer der lokalen Holzunternehmen sind politisch gut vernetzt, einige davon sitzen als Abgeordnete im Regionalparlament. Würden die Gesetze richtig angewendet, wären deren Profite in Gefahr, meint Goworowksi. Viele Unternehmen sind deshalb daran interessiert, dass die Region als gesundheitlich unbedenklich gilt.

Im Oktober 2015 hat die Regierung in Moskau ein neues Dekret verabschiedet, das die Zahl der von Tschernobyl betroffenen Siedlungen im Gebiet um Nowosybkow reduziert. Weil die seit 1986 ergriffenen Schutz- und Rehabilitationsmaßnahmen erfolgreich waren, behauptet die Regierung. Unabhängige Experten, etwa von der Umweltorganisation Greenpeace, bezweifeln dies. Für die Menschen bedeutet der Regierungsbeschluss empfindliche materielle Einbußen. Wegen der Wirtschaftskrise wird auf ihre Kosten gespart, ist von Betroffenen und Selbsthilfeorganisationen zu hören. Wer in der Umsiedlungszone wohnte, hatte bislang Anrecht auf kostenlose Medikamente, Extra-Urlaubstage sowie jeden Monat eine finanzielle Kompensation.

Normalisierung spart Geld

Wie Nowosybkow liegt nun auch das nordwestlich davon gelegene Dorf Stare Bobovitschi nur noch in der „zugesagten Zone für freiwillige Rückkehr". „Mir hat nie jemand einen Beweis dafür gezeigt, dass es bei uns nun sauberer ist", sagt die Bibliothekarin des Dorfes, Natalia Kundik. Die rund 900 Bewohner müssen nun mit 500 Rubel im Monat (ca. 6,7?€), der Hälfte der vorherigen Unterstützung, auskommen. Bei einem lokalen Mindestlohn von umgerechnet rund 120 € fällt dies bei vielen Familien stark ins Gewicht. Arbeitsplätze gibt es in der bettelarmen Region kaum. Nach der Reaktorkatastrophe wurden die vorhandenen Unternehmen verlegt, Investitionen sind ausgeblieben. Um zu überleben, sind die meisten wie seit jeher auf Subsistenzwirtschaft angewiesen, trotz der kontaminierten Böden. Vor praktisch jedem Haus picken Hühner im Gras, viele halten sich Kaninchen oder Schweine. Zur Ergänzung wird im Wald gejagt, werden Beeren und Pilze gesammelt. Radioaktivität ist kein Thema. Durch die Kürzung der Gelder fühlen sich die Menschen nun aber von Moskau im Stich gelassen.

Westlich davon, auf der ukrainischen Seite der Grenze, in rund 180 Kilometern Entfernung, schauen sich nicht nur die Dörfer mit ihren einstöckigen Holzhäusern, Feldern und Störchen, die auf Kaminen und Telegrafenmasten nisten, zum Verwechseln ähnlich, auch die Probleme der Menschen ähneln einander. „Alles hat sich geändert, nur die Radioaktivität ist geblieben", sagt Alla Lutschenko, die mit ihren beiden Söhnen im Dorf Mnjow wohnt. Die Regierung in Kiew hat den Tschernobyl-Betroffenen in den vergangenen Jahren ebenfalls Stück für Stück die Vergünstigungen gestrichen, das Land steckt in einer Wirtschaftskrise. Seit Anfang Januar gibt es nun keine kostenlosen Medikamente oder Verpflegung in der Schule mehr - bislang die einzige Möglichkeit für Kinder, saubere, nicht kontaminierte Lebensmittel zu erhalten. Im Dorf gäbe es viele Krebsfälle, die Radioaktivität beunruhige die Leute, erzählt die junge Frau.

Schutz für 100 Jahre

Von Mnjow ist es nicht mehr weit in die 30-Kilometer-Sperrzone, nach Tschernobyl. Der nach dem Unfall hastig über dem explodierten Reaktor vier errichtete Sarkophag aus Stahl und Beton macht einen baufälligen Eindruck. Kräne ragen in die Luft, an der Seite sind Gerüste angebracht. Unmittelbar daneben wächst die glänzende, gigantische Stahlkonstruktion der bogenförmigen neuen Schutzhülle in die Höhe. Errichtet wird das New Safety Confinement (NSC) vom französisch-deutschen Konsortium Novarka. Nach erheblichen Verzögerungen im Zeitplan soll das NSC nun 2017 über den alten Sarkophag geschoben werden. Für die nächsten 100?Jahre verspricht das Bauwerk, dessen Kosten auf 1,5 Milliarden $ geschätzt werden, Schutz vor radioaktiver Strahlung.

Das Problem wird damit jedoch nur verschoben, nicht gelöst, wie ein Besuch in der Stadt Prypjat zeigt. Die ehemalige Wohnstätte der AKW-Arbeiter mit ihren verfallenen Gebäuden zieht bereits wieder Touristengruppen an. Erneut bewohnbar wird sie allerdings erst in mehreren zehntausend Jahren sein.

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