Der Morgen nach der Explosion ist still. Schwärme weißer Tauben kreisen über dem Viertel in Hassakeh, der größten Stadt im Nordosten Syriens. Der Rauch ist verzogen. Die ratlos dreinblickenden Männer, die man tags zuvor noch auf wackeligen Handyvideos sehen konnte, sind verschwunden. Das Wrack des ausgebrannten Chevrolets: weggeräumt. Nur der pfützengroße Rußfleck auf der Straße hinter der Schulmauer zeugt davon, dass es hier gestern einen Anschlag auf ein Militärfahrzeug gegeben hat.
Einen Häuserblock weiter kniet Aisha Mohammad*, 53, auf dem Boden ihrer Wohnung im ersten Stock. Vor ihr: eine Keksdose mit der Aufschrift "Kernafa Luxury". Den Inhalt hat sie vor sich ausgebreitet. Erinnerungen an die Kinder, die fortgezogen sind.
Da sind die Patronenhülsen, die Ahmad, ihr Jüngster, seit Beginn des Krieges gesammelt hat. Da ist ein Feuerzeug, in das Omrans Name eingraviert ist, und seine Armbanduhr, die nicht mehr tickt. Die SIM-Karten, die sich Marwan für seine Filmprojekte gekauft hat. Die Haarspangen, mit denen Amira ihre dichten schwarzen Locken zusammensteckte. Und da ist ein kleiner, aufziehbarer, lilafarbener Teppich, auf dem sich zwei Figürchen aus "1001 Nacht" aneinanderschmiegen. "Damit hat Anas immer gespielt." Aisha Mohammad lacht. Dann läuft ihr eine Träne übers Gesicht. Der Vater, Omar Khalil, 63, sitzt daneben und nickt.
Wochenlang haben wir, die Fotografin und ich, in Syrien nach einer Familie gesucht, die bereit ist, mit uns zu sprechen. Über den Abschied und das Zurückbleiben, das Leben der Familien zwischen Syrien und Europa. Immer wieder haben wir Absagen bekommen: "Die Geschichte ist so intim", "Es tut mir leid, der Schmerz ist zu frisch, um darüber zu sprechen".
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Schließlich haben sich die Eltern meines Freundes Anas bereit erklärt. Ich habe sie kennengelernt, als ich vor eineinhalb Jahren das erste Mal in Hassakeh war.
Seine Eltern sagten, sie könnten nichts versprechen. Sie wollten aber versuchen, das, wofür sie keine Worte haben, in Worte zu fassen - als zwei von rund zwanzig Millionen Menschen, die in Syrien geblieben sind. Wir haben sie vier Mal getroffen. Drei Mal haben wir für diesen Text mit Anas gesprochen. Er ist 29 und arbeitet im Landschafts- und Gartenbau in Hamburg. Und er war der erste der Familie, der ging.
Die Mutter:
Gestern hat es einen Anschlag gegeben. Dort drüben vor der Mauer der Grundschule ist ein Auto explodiert. Als ich den Knall gehört habe, bin ich auf den Balkon gegangen, um nachzusehen, was passiert ist. Die zwei Männer aus dem Auto sind verletzt in den Eingang eines Nachbarhauses gekrochen. Die ganzen Treppenstufen waren voller Blut. Meine alte Nachbarin, die Brot geholt und sich am Straßenrand niedergelassen hatte, um zu rasten, wurde von einem Splitter getroffen. Die Eltern der Schulkinder waren in Panik. Es war Vormittag, sie dachten, die Schule sei angegriffen worden. Ich wollte mit Fatima, meiner 16-jährigen Tochter, nach unten laufen, um zu helfen, aber mein Mann hielt uns zurück.
Kurz danach rief mein Sohn Anas an. Er ist vor acht Jahren aus Syrien geflohen. Er lebt in Hamburg, er hat jetzt einen deutschen Pass. Er wusste nichts davon. "Wie geht's dir, Mama?", hat er gefragt. Der Schrecken steckte mir noch im Körper, aber ich habe "Danke, mein Schatz, mir geht es gut" gesagt. "Es gibt nichts Neues. Wie geht es dir?" Als er ein paar Stunden später auf Facebook sah, was passiert war, rief er erneut an. Er war wütend. "Mama, ich hab gesehen, dass neben eurem Haus eine Bombe explodiert ist, warum hast du nichts gesagt?"
Ich kenne meine Kinder: wenn sie wüssten, wie es mir wirklich geht oder wie die Lage hier ist, würden sie sofort zurückkommen. Ich würde mir das nie verzeihen. Ich habe mir geschworen, keinen Schmerz zu zeigen, von dem Tag an, als der Erste ging.
Der Vater:
Es war nie geplant, dass unsere Kinder ins Ausland gehen. Ich habe immer gearbeitet, um ihnen hier ein gutes Leben zu ermöglichen. Ich war Beamter für die Regierung, meine Frau zu Hause. Wir waren nicht reich, aber hatten alles, genug zu essen. Und jeder, der hier fleißig in der Schule war, bekam einen Job.
Wir hatten Züge, die von Hassakeh nach Aleppo oder Damaskus fuhren. Wir hatten klares, sauberes Trinkwasser. An den Wochenenden fuhren wir zur aufs Land, um gemeinsam zu essen und zu feiern. Und wir hatten Grundstücke, auf denen meine Söhne ihre Häuser hätten bauen können. Wo sie mit ihren Frauen und Kindern hätten leben können. Meine Söhne sind weg - und die Grundstücke gibt es auch nicht mehr. Ich habe sie verkauft, um von dem Geld die Flucht meiner Söhne zu bezahlen.
Irgendwann 2011 oder 2012 war es, dass mir klar wurde: Nichts wird so bleiben, wie es ist. Das war in dem Moment, als ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe, dass Syrer auf Syrer schießen. Da wusste ich: Der Krieg wird uns in den Abgrund reißen. Trotzdem wollte ich versuchen, meine Familie zusammenzuhalten.