Mabrit Tekleberhan dachte nicht, dass sie jemals eine Waffe tragen würde. Bis die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) in ihr Haus kam, um ihren Vater als Kämpfer zu rekrutieren. Weil der bettlägerig war, musste die 18-Jährige für ihn einspringen. Zwei Monate Training bekam sie von der TPLF. Dann sollte sie gegen die äthiopische Armee kämpfen.
Ich habe vor vielem Angst, selbst im Dunkeln. An der Front habe ich ständig geweint, immer wenn ich Schüsse gehört habe. Die Männer um mich herum haben mich dann beruhigt und gesagt, dass alles gut werden würde.
"Seit Kriegsbeginn sind wir überlastet"Inzwischen ist die junge Frau als Kriegsgefangene in einem Krankenhaus in der an Tigray angrenzenden Afar-Region. Irgendwann, als die Armee näher kam, verließ sie mit anderen die Stellung und wurde von einer Kugel am Oberschenkel getroffen.
Mabrit Tekleberhan wurde im Krieg von einer Kugel getroffen.
Sie ist eines von vielen Opfern dieses Krieges, der jetzt schon fast 16 Monate anhält. Im November 2020 schickte der äthiopische Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed seine Truppen nach Tigray im Norden des Landes, um dort gegen die TPLF vorzugehen. Zuvor hatte es lange politische Machtkämpfe gegeben. Die Volksbefreiungsfront, einst tonangebend im ganzen Land, sah sich seit dem Amtsantritt Abiys an den Rand beziehungsweise in die Provinz gedrängt.
Das Dubti-Hospital, ein paar Kilometer entfernt von Afars Hauptstadt Semera, hat schon lange die Grenzen seiner Kapazität überschritten. Viele Patienten sind unter freiem Himmel untergebracht, wo Ziegen zwischen den Betten herumlaufen. "Seit Kriegsbeginn sind wir überlastet", sagt der Leiter des Krankenhauses, Hussen Aden. "Eigentlich können wir etwa 140 Patienten aufnehmen. Aber jetzt haben wir bis zu 300. Fast alle sind im Krieg verwundet worden."
Mangel an Essen, Wasser und UnterkünftenDie Afar-Region ist von der Hauptstadt Addis Abeba viele Fahrstunden entfernt. Am Straßenrand stehen immer wieder ausgebrannte Panzer. Stille Zeugen der Kämpfe. Die Krieg hat sich schnell von Tigray auf andere Landesteile ausgeweitet. Afar ist unter anderem deshalb von strategischer Bedeutung, weil durch die Region eine große Verbindungsstraße von Addis Abeba zum Hafen von Dschibuti führt. Wer die besetzt, hat die Kontrolle über Waren, die ins Land kommen, sagt Dawud Mohammad von der Universität in Semera. Die Menschen in Afar seien zum Spielball dieser Interessen geworden.
Das hier ist die ärmste Region Äthiopiens. Drei Viertel der Bevölkerung waren schon vor dem Krieg auf Hilfslieferungen angewiesen. Jetzt gibt es einen noch größeren Mangel an Essen, sauberem Wasser und Unterkünften.
Der Wissenschaftler hat sich lange mit den Entwicklungsmöglichkeiten seiner Region beschäftigt. Doch alles, was ihm sonst Hoffnung machte, sieht er jetzt zerstört. Die Führung in Addis Abeba habe Afar vergessen, meint er. "Wir fragen uns, wie viele Menschen in Afar noch sterben müssen, bis die äthiopische Regierung eingreift. Wir sind Bürger dieses Landes und es wäre ihre Aufgabe, uns zu schützen."
Fast sieben Millionen Äthiopier auf Hilfe angewiesenEtwa 300.000 Menschen sind nach Angaben der lokalen Regierung inzwischen in der Region vertrieben. Die Toten hat noch niemand genau gezählt. In der Stadt Afdera haben einige Geflüchtete in einer alten Salzfabrik Unterschlupf gefunden. Asia Nuru Ali kam vor einigen Tagen mit ihren vier Kindern in die riesige kahle Halle. Einem der Jüngsten hat sie um die nackten Füße medizinische Handschuhe gebunden, damit die Sohlen wenigstens etwas vor den vielen spitzen Steinchen auf dem Boden geschützt sind. Die 25-Jährige floh, als die TPLF in ihr Dorf kam und hat nichts aus ihrem Haus mitnehmen können.
"Wir haben bisher noch keine Unterstützung erhalten", sagt sie. "Wir hoffen, dass bald Lebensmittel und andere Sachen ankommen." Sonst wisse sie nicht mehr, wie sie ihre Kinder ernähren soll. Nach Angaben des Welternährungsprogramms sind inzwischen fast sieben Millionen Menschen in Äthiopien auf Lebensmittelhilfen angewiesen. Die Auswirkungen des Krieges werden noch durch eine Dürre verschlimmert.
"Jede Familie musste jemanden schicken"Auch im Dubti-Hospital wird die schlechte Versorgungslage schnell deutlich. Den Ärzten fehlt es an wichtigen Medikamenten und Schmerzmitteln. Viele Patienten sind abgemagert. So auch der 18-jährige Filimon Gebremariam, ebenfalls ein ehemaliger Kämpfer der TPLF. Genau wie Mabrit konnte er sich nicht dagegen wehren, von der Volksbefreiungsfront rekrutiert zu werden. "Jede Familie musste jemanden schicken. Die TPLF brauchte neue Kräfte, weil zu viele junge Männer schon getötet worden waren."
Gebremariam wurde an der Front so schwer verletzt, dass sein linker Unterschenkel amputiert werden musste. Er sitzt völlig geschwächt auf einer Matratze am Boden. Dieser Krieg war nie sein Krieg. Jetzt hofft er nur, dass er endet, sagt er mit leiser Stimme: "Ich wünsche mir nichts mehr als Frieden für mich und meine Familie."
Seiner ehemaligen Mitkämpferin Tekleberhan geht es genauso. Die junge Frau aus Tigray hat einen Zettel über ihr Bett gehängt. Darauf ihre ganz persönliche Friedenserklärung: "I love Afar" hat sie geschrieben - ich liebe Afar.
"I love Afar" hat Mabrit Tekleberhan auf einen Zettel geschrieben.
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