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Frontex: Agentur außer Kontrolle

Als Yussuf P. im Oktober 2016 auf der griechischen Insel Kos gemeinsam mit seiner Frau und den vier Kindern das Flugzeug betritt, wundert er sich. Die Familie wird getrennt. Neben jeder Person in der Maschine nimmt ein Beamter Platz, auf dessen Uniform "Frontex" steht. Die Sonnenblenden der Fenster müssen den ganzen Flug über geschlossen bleiben. "Der Polizist, der uns aus dem Camp abgeholt hat, hatte versprochen: 'Kommt mit, wir bringen euch nach Athen!'", erzählt Yussuf P., der eigentlich anders heißt und seinen echten Namen nicht in den Medien lesen möchte, Mitte Januar am Telefon.

Aber sie fliegen nicht nach Athen. Das Erste, was P. sieht, als er aus dem Flugzeug steigt, ist die türkische Fahne am Flughafen in Istanbul. "Das war der Moment, in dem mir bewusst wurde: Die EU hat uns gekidnappt und illegal in die Türkei entführt", sagt er. Er wurde mutmaßlich Opfer eines sogenannten Push-Backs, einer illegalen Rückführung durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex.

Yussuf P. und seine Familie waren aus Syrien geflohen und mit einem Geflüchtetenboot auf der Insel Leros angekommen. Dort stellten sie einen Asylantrag. Wenige Tage später wurden sie mit dem Schiff auf die Nachbarinsel Kos gebracht und dort in das Flugzeug gesetzt. Die Agentur hat einem Medienbericht zufolge bestätigt, mit an Bord der Maschine gewesen zu sein. Verantwortlich für Rückführungen seien aber die jeweiligen nationalen Behörden und nicht Frontex.

10.000 Grenzbeamte bis 2027

P. lebt inzwischen mit seiner Familie im Irak. Er hat versucht, Gerechtigkeit einzuklagen. Doch schon bald stellte sich die Frage: Wie überhaupt?

Die EU-Agentur Frontex wurde 2004 gegründet, um gemeinsame Einsätze der Mitgliedstaaten an der Außengrenze zu koordinieren. Sie ist in den vergangenen Jahren gewachsen wie keine andere EU-Agentur. 5,6 Milliarden Euro soll sie bis 2027 aus dem EU-Haushaltsbudget erhalten, 10.000 eigene Grenzbeamte einstellen. Dazu kommt polizeiliche Ausrüstung: Streifenwagen, Flugzeuge, Drohnen, Handfeuerwaffen.

Der vermeintliche Fortschritt wird überschattet von Skandalen. Seit Jahren gibt es Vorwürfe, dass Frontex sich an illegalen Push-Backs in der Ägäis beteiligt oder sie zumindest gedeckt habe. Auch soll die Agentur teilweise Treffen mit der Rüstungsindustrie verschwiegen und gegenüber dem EU-Parlament mehrmals die Unwahrheit gesagt haben.

Aufgeklärt sind diese Vorwürfe nicht. Auch personelle Konsequenzen gab es für die Frontex-Führung bislang keine. Wer also kontrolliert die Kontrolleure?

"Die Beziehung zwischen Frontex und den Mitgliedsstaaten ist symbiotisch"

Das EU-Parlament kann nur indirekt über das Budget Einfluss auf die Agentur nehmen und Frontex-Chef Fabrice Leggeri vorladen, damit dieser über die Aktivitäten der Agentur berichtet. "Da EU-Agenturen als technokratische Behörden entworfen wurden, die autonom arbeiten sollen, gibt es keine Gesamtkontrolle durch das Parlament oder die Kommission oder irgendeine andere EU-Institution", sagt Lena Karamanidou. Die Migrationswissenschaftlerin hat in den vergangenen Jahren im Rahmen des von der EU geförderten Forschungsprojekts Respond zu Frontex geforscht.

Die Agentur wird von einem Verwaltungsrat geführt, der aus zwei Mitgliedern der EU-Kommission, 27 Vertretern der Mitgliedsstaaten plus Repräsentantinnen aus Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz besteht. Dieser Rat trifft alle wichtigen Entscheidungen, die die Agentur betreffen, verabschiedet den Haushaltsplan und entscheidet, wie viele Frontex-Beamte wo eingesetzt werden. Ihm gegenüber ist Leggeri rechenschaftspflichtig.

Das sei einer der Gründe, warum die Push-Back-Vorwürfe bislang keine Konsequenzen gehabt hätten, glaubt Karamanidou. "Die Beziehung zwischen Frontex und den Mitgliedsstaaten ist symbiotisch", sagt sie. "Sie brauchen einander bei der Implementierung der EU-Grenzpolitik, und daher ist es unwahrscheinlich, dass die Staaten Frontex oder Leggeri wirklich zur Verantwortung ziehen."

Er klagt gegen den griechischen Staat

Nachdem Yussuf P. mutmaßlich illegal in die Türkei gebracht worden ist, reicht er zusammen mit seiner Anwältin Lisa-Marie Komp im Januar 2017 Klage gegen den griechischen Staat beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein. "Unser Ziel war auch, dass die Rolle und Verantwortung, die Frontex spielt bei solchen Rückbringaktionen, kritisch untersucht wird", sagt Komp. Bis heute ist über die Klage nicht entschieden.

Weil die EU die Europäische Menschenrechtskonvention nicht unterschrieben hat, kann Frontex selbst nicht beim EGMR verklagt werden. Der einzige Weg, die Agentur rechtlich zur Verantwortung zu ziehen, ist der Gang vor den Europäischen Gerichtshof (EUGH) - und die Erfolgsaussichten dort sind ähnlich gering wie bei einem Gang vor das Bundesverfassungsgericht.

2016 hat Frontex auf Druck des EU-Parlaments daher den "Individuellen Beschwerdemechanismus" eingerichtet. Menschen, die glauben, dass ihre Rechte im Rahmen eines Frontex-Einsatzes verletzt wurden, können sich bei der Agentur beschweren. Zeitgleich mit der Klage beim EGMR reicht die Anwältin von Yussuf P. im Januar 2017 eine solche Beschwerde bei der Agentur ein. P. wirft der Behörde vor, mehrere Grundrechte verletzt zu haben, darunter das Recht auf , den sogenannten Grundsatz der Nicht-Zurückweisung und das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung. Dann warten sie. Zweieinhalb Jahre lang.

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