Der Herrschaftsbereich der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) in Mossul schrumpft mit jedem Tag. Aber noch immer sind laut Schätzungen der Uno rund 400.000 Menschen in der Altstadt und umliegenden Vierteln westlich des Tigris eingeschlossen. Mitte Februar begannen irakische Truppen mit Unterstützung der US-geführten Koalition mit ihrer Offensive in West-Mossul. Seither sind nach Angaben des Zivilschutzes dort schon mehr als 3000 Menschen getötet worden.
Mithilfe des syrisch-irakischen Nachrichtenportals "Sound and Picture" hat SPIEGEL ONLINE mit drei Menschen Kontakt aufgenommen, die noch immer im Westen Stadt ausharren. Sie schildern die drakonische Herrschaft der Dschihadisten, ihre Angst vor den Angriffen der Anti-IS-Koalition und die Ungewissheit über das, was nach dem Sieg über den IS passiert.
Fatima, 22, Studentin
Der schlimmste Tag in der vergangenen Woche war Donnerstag: Die US-geführte Koalition hat das Viertel Neu-Mossul aus der Luft angegriffen. Ich wohne nur wenige Straßen weiter und habe die Explosion gespürt. Ganz ehrlich: Unser Leben hier in Mossul ist nichts mehr wert. Nicht für den IS und auch nicht für die Koalition.
Ich fühle mich in meinem Haus wie eine Gefangene, die darauf wartet, dass ihr Todesurteil vollstreckt wird. Ich kann hier nicht weg: Wenn ich rausgehe, muss immer ein Mann aus meiner Familie dabei sein, sonst bestraft mich der IS. Außerdem muss ich diesen langen schwarzen Umhang tragen. Es kann trotzdem sein, dass sie mich beschuldigen falsch zu laufen, und dafür meine Familie bestrafen. Und selbst wenn mich die IS-Leute in Ruhe lassen, muss ich immer noch die Luftangriffe fürchten. Mit Befreiung hat das hier in Mossul nichts zu tun: Eine radikale Gruppe löst eine andere radikale Gruppe ab.
Wenn ich könnte, würde ich fliehen, aber wir haben kaum das Geld, um uns Lebensmittel zu leisten. Wie sollen wir dann die Leute vom IS bestechen? Ich hoffe so sehr, dass ich eines Tages mein Studium abschließen kann, ich wollte immer Grundschullehrerin werden. Aber ich habe Angst, dass ich es nicht schaffe, so lange zu überleben.
Abdullah, 29, Gemüsehändler
Fast wäre ich Jurist geworden. Als der IS 2014 Mossul eingenommen hatte, war ich gerade im Abschlussjahr für meinen Master. Seitdem arbeite ich als Gemüsehändler, ich muss ja meiner Familie helfen, irgendwie über die Runden zu kommen. Seit die irakische Armee die Offensive auf West-Mossul gestartet hat, können wir nicht mehr arbeiten. Das Gemüse ist zu teuer, die Bauern trauen sich nicht auf die Felder, weil es zu riskant ist.
Ich sitze deshalb in meinem Zimmer, lese zum zehnten Mal meine alten Studienbücher und warte darauf, dass uns irgendwer hier rausholt. Ich habe Angst, dass es ewig dauert, bis die Koalition es schafft, die Altstadt einzunehmen und der Belagerungszustand aufhört. Ich habe Angst, dass wir bis dahin tot sind.
Mein bester Freund hat deshalb versucht, vorige Woche aus diesem Todeskreis zu fliehen: Er wurde an einem Checkpoint am Stadtrand von einem Scharfschützen erschossen. Wir wissen bis heute nicht, wer ihn erschossen hat, nur so viel: Es war nicht der IS, es war eine der Milizen, die zusammen mit der Koalition kämpfen. Denn am Ende kämpft hier jeder für seine eigenen Interessen und die großen Verlierer sind die Zivilisten.
Yassin, 32, Ladenbesitzer
In einem Viertel, in dem viele Verwandte von mir wohnen, ist heute eine Bombe explodiert. Einer meiner Cousins und seine Familie sind dabei ums Leben gekommen. Ich komme deshalb gerade vom Blutspenden, das ist das einzige was ich noch tun kann. Die Krankenhäuser sind entweder zerstört oder belegt mit Angehörigen der IS-Kämpfer. Für Zivilisten gibt es in West-Mossul keine Möglichkeiten mehr, medizinisch versorgt zu werden.
Es kann wirklich jeden treffen hier. Vorige Woche wollte ich zum Bäcker über die Straße gehen, als ich gesehen habe, dass über mir eine Bombe abgeworfen wird. Ich habe mich instinktiv flach auf den Boden gelegt, die Bombe ist nur wenige Meter von mir entfernt eingeschlagen, aber ich blieb unverletzt. Ich bin so dankbar, dass ich noch lebe, aber ich weiß nicht, wie lange ich noch dieses Glück habe. Meine größte Sorge ist, dass meinen Kindern was zustößt.
Früher habe ich als Lehrer gearbeitet. Dann ist 2014 der IS gekommen und hat den Lehrplan umgeworfen und die alten Schulbücher vernichtet. Ich habe dann einen kleinen Laden für Haushaltswaren aufgemacht, gleichzeitig habe ich angefangen als Aktivist bei "Sound and Picture" zu arbeiten und von den Verbrechen zu berichten, die in Mossul passieren. Hier kamen immer eine Menge Leute in den Laden, die viel geredet haben, natürlich auch Kämpfer vom IS. Im Moment steht der Betrieb still, die irakische Armee hat alle Zufahrtsstraßen blockiert, deshalb kommen hier keine Güter mehr rein. Was soll ich tun?
Ich traue mich nicht mehr, auf die Straße zu gehen, weil ich Angst habe. Seit der IS hier ist, herrscht das Gesetz der Willkür: Sie können mich bestrafen, weil mein Bart falsch gestutzt ist, oder weil ich die falschen Klamotten trage. Oder auch grundlos, wenn sie mich hassen. Sie finden schon einen Grund. Natürlich würde ich lieber fliehen, aber meine ganze Familie sitzt hier fest: meine Eltern, meine Geschwister, meine Frau, meine Kinder. Es ist unmöglich, dass wir alle zusammen die Stadt verlassen, deswegen bleiben wir hier.
Mossul wird nie mehr so sein wie früher. Selbst wenn die irakische Armee die Stadt zurückerobern sollte, werden die Selbstmordanschläge und Autobomben weitergehen, da bin ich mir sicher. Außerdem hat die Offensive der Koalition schon jetzt mehr Menschen getötet als der IS in drei Jahren. Wenn die Leben der Zivilisten der Preis sind, den wir für die Freiheit bezahlen müssen, dann will ich diese Freiheit nicht.
"Sound and Picture" ist ein Kollektiv von Bürgerjournalisten aus Syrien und dem Irak, das Menschenrechtsverletzungen in den vom IS besetzten Gebieten dokumentiert und darüber berichtet. Die Organisation wurde 2015 in Gaziantep in der Türkei gegründet. Heute arbeiten laut eigenen Angaben mehr als 60 Reporter in den IS-Gebieten in Syrien und dem Irak; die meisten von ihnen leben in den syrischen Städten Rakka und Deir al-Sor sowie im irakischen Mossul.