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Die Sanfte mit der gute Nase

Anne-Sophie Pic setzte ganz auf ihre Intuition, um ihren Stil zu finden und sich vom Familientraditionen zu lösen. Heraus kamen 5 Sterne und ein kleines Gourmet-Imperium



Bonne decouverte! Statt eines guten Appetits wünscht der Ober eine „gute Entdeckung“, bevor er sich in Richtung Küche der neuen Pariser Gourmet-Adresse „La Dame de Pic“ verabschiedet. Auf dem Tisch liegen ein Parfum-Duftstreifen für das Menu „Safranerde“ und daneben ein Teller mit schaumigen pinken Häufchen zwischen denen gelbe, weiße, dunkelrote und gestreifte Kugeln stecken. Bei dem farbenfrohen Gericht, das aussieht wie ein Himbeeren-Sorbet mit Bonbons, handelt es sich um eine Vorspeise aus verschiedenen Rote-Beete-Sorten, die mit dem Blue Mountain Kaffee aus Jamaika und Sauerdorn verfeinert wurden. Im Mund verbinden sich Mousse und Bällchen zu einer entdeckungsreichen Mixtur aus bitter und süß sowie luftig und knackig.

 

Für solche außergewöhnlichen Geschmacks- und Texturverbindungen ist Anne-Sophie Pic, Frankreichs einzige Drei-Sterne-Köchin, berühmt. Seit 2007 darf die kleine Dame mit dem streng gescheitelten Haar die höchste Auszeichnung der Kochkunst führen. Zum Ritterschlag des Michelin gesellten sich in den Jahren weitere Titel: Die zarte Frau aus Valence, einer unscheinbaren Stadt im Südosten Frankreichs, ist Ritter der Ehrenlegion, Ehrendoktor, Ehrenbürger, bekam 2009 noch zwei weitere Sterne für ihren Restaurantableger in Lausanne und wurde 2011 aus einer illustren Runde von 8000 Konkurrenten gleich zweifach zur weltbesten Chefköchin gekürt – nämlich von der britischen Zeitschrift „Restaurant“ und vom „Prix Veuve Clicquot“. Kurzum: In der Welt der Genüsse ist Anne-Sophie Pic ein ganz großer Star.

 

Von diesen Gourmet-Lorbeeren ist wenig zu spüren, als sich die nicht einmal 1,60 m große Madame, wie immer ungeschminkt und in ihrer blütenweißen Kochjacke, vorsichtig im Ledersessel ihrer „Museumecke“ niederlässt. An den Wänden des kleinen Vorraums zum Restaurant in Valence reihen sich Schwarz-Weiß-Fotos und Dokumente ihrer ebenfalls dreifach Michelin-gekrönten Vorfahren: Die in Gold gerahmte Urkunde zur Verleihung der Ehrenlegion an ihren Großvater André. Der wohlbeleibte Opa mit Frau auf der Terrasse des Lokals. Vater Jacques, der wohlgelaunt in einer Runde mit anderen Sterneköchen Kartoffeln schält. Jacques im Gemüseacker, Jacques mit Gérard Depardieu und Cathérine Deneuve...

 

„Mein Vater und ich waren sehr eng. Er wollte, dass ich in der Firma, also nah bei ihm arbeiten würde. Aber nicht in der Küche. Als ich nach meinem Ausflug ins Management ankündigte, dass ich zurück komme und kochen will, war er beunruhigt. Er meinte, es wäre körperlich zu hart für mich.“ Anne-Sophie Pic’s Weg hoch in den Küchenolymp war trotz der perfekten Rahmenbedingungen ein steiniger Weg und er begann mit einer Rebellion. Denn als Abiturientin wollte die, deren Kinderzimmer direkt über der Kochtöpfen lag und die mit den Gerüchen von gebratenen Täubchen und Flußkrebs-Gratin groß wurde, nur eines: Raus. „Alles war zu eng hier. Da ich sehr behütet aufgewachsen war, musste ich die Familienbande durchschneiden, um meinen Geist zu öffnen.“

 

Die junge Dame ging nach Lyon, studierte Wirtschaft und machte anschließend Praktika bei LVMH in Tokio und New York. Dort gab ihr der Exportchef von Moët Chandon zum Abschied einen guten Rat mit auf dem Karriereweg: „Er fand es schade, dass ich lieber bei anderen arbeiten wollte statt mein wunderbares Zuhause weiter auszubauen. Da wusste ich plötzlich, dass ich zurück muss, um das Koch-Handwerk zu erlernen.“ Zuhause in Valence stieß ihr Sinneswandel auf Unverständnis, aber ihr Vater willigte schließlich ein, sie auszubilden. Im September 1992 sollte sie in die Küche eingeführt werden, im selben Monat verstarb unerwartet Jacques Pic an einem Aorta-Riss. Wenige Zeit später verlor das Restaurant seinen dritten Stern. „Als das passierte war klar, dass ich in die Küche muss. Aber alle um mich herum waren durcheinander. Niemand hatte Zeit, mich zu trösten, geschweige denn mir das Kochen beizubringen.“ Es folgten bittere Jahre: Nicht nur ihr älterer Bruder Alain, auch die Belegschaft und später, als Alain Pic das Restaurant verließ, sogar die ganze Stadt waren gegen die junge Frau, die plötzlich Köchin werden wollte. „Es waren acht furchtbare Jahre, in denen ich ständig Angst hatte, noch einen Stern oder sogar alle zu verlieren. Wäre das passiert, hätte ich das Haus schließen müssen.“

 

Es kam nicht so, denn Anne-Sophie Pic zwischenzeitlich verheiratet mit David Sinapian, ihrem Ex-Studienkollegen und Helfer in der Not, gab alles, um ihr kulinarisches Erbstück zu retten. „Zwischen meinem 20. und 35. Lebensjahr waren wir auf keiner einzigen Party. Ich feierte nicht einmal meinen 30. Geburtstag. Den Kinderwunsch verschoben wir auf später, weil wir uns auf das Haus konzentrieren wollten.“ Sie bedauert die Zeit nicht.  „Aber ich glaube, ich hätte einfacher an mein Ziel kommen können. Wäre mein Vater noch am Leben gewesen, hätte ich vielleicht weniger in die Firma investiert.“

 

Im Jahr 2002, so erzählt sie in ihrer schnellen und reflektierten Art zu Sprechen, sah sie endlich Licht am Ende des Tunnels. „Ich hatte in der Küche eine Offenbarung: Ich begann die Mechanismen des Kochens zu verstehen.“ Obwohl ihre Mutter ihr geraten hatte, die Rezepte des Vaters weiter zu kochen, war Anne-Sophie auf eigenes Risiko gegangen. „Da ich die Techniken nicht beherrschte, kochte ich mit Intuition. Mein Sous-Chef sagte einmal treffend, dass ich keine Tabus kannte. Das stimmt und es hat sich gelohnt: Für meine intuitiven und außergewöhnlichen Geschmacksverbindungen bin ich heute bekannt.“ Statt die Tochter von Jacques Pic zu bleiben, erschuf die Französin ihren eigenen Stil. Nur Papas Seebarsch auf Kaviar hat sie auf der Menükarte belassen. „Doch auch hier habe ich die Soße leichter gemacht“, ergänzt hastig die heute 44-Jährige.

 

Die Anerkennung der Kritiker des Michelin ließ dennoch auf sich warten. Als 2007 der dritte Stern endlich zurückgewonnen war, vereinte Anne-Sophie Pic plötzlich alle Blicke auf sich: Sie ist nicht nur erste Frau seit 56 Jahren mit drei „macarons“, wie man in Frankreich sagt, sondern auch noch Autodidaktin. „Es war der schönste Tag in meinem Berufsleben.  Aber wenn man eine Frau ist, zweifelt man trotzdem weiter an sich. Selbst heute noch habe ich Angst, den dritten Stern wieder verlieren zu können. Ich stelle mich ständig in Frage. Mein Mann versteht das nicht.  Ich aber weiß, solange ich noch Energie habe, kann ich noch besser werden. Ich habe noch lange nicht das Maximum erreicht.“

 

Pic umschreibt ihre eigene Unzufriedenheit als „eine Flucht nach vorne“. Sie hat für ihr kleines Gourmet-Imperium, das in den Jahren auf 100 Mitarbeiter angewachsen ist und heute neben dem Stammhaus, ein Bistro, ein Hotel, Restaurants in Lausanne und Paris, einen Delikatessenladen und eine Kochschule umfasst, noch Großes vor.  „In Lausanne hätte ich gerne einen dritten Stern. In Paris reicht mir einer plus, also vielleicht auch zwei. Aber die zusätzlichen Sterne müssen die Teams alleine schaffen. Ohne mich. Es steht außer Frage, dass ich Valence aufgebe für die anderen Standorte.“ 

 

Die „Antennen“, wie Anne-Sophie Pic, ihre Filialen am Genfer See und in der französischen Hauptstadt nennt, dienen vor allem dazu, den Gästen Lust zu machen, zu ihr in die Provinz zu fahren. An der Nationalstraße 7, dort wo das Maison Pic zuhause ist und wo früher die Stars und Sternchen auf ihrem Weg in den Urlaub an die Cote d’Azur vorbeikamen, ist es nämlich ruhig geworden. Zwar bringt der Schnellzug TGV die Pariser in nur zwei-ein-viertel Stunden nach Valence, doch man muss schon einen triftigen Grund haben, um in das 60.000 Einwohner-Städtchen zu wollen. „Das ist hier nicht Toulouse oder Lyon. Dennoch können wir vom Restaurant, dem Bistro und dem Hotel leben. Viel Gewinn wirft die Firma aber nicht ab.“ Es gäbe immer wieder ruhige Phasen, während in Paris wenige Wochen nach der Eröffnung bereits die Tische auf Monate im voraus ausgebucht waren.

 

„Das Lokal in Paris leert sich nie“, stellt die Chefin selbst verblüfft fest. Was aber auch am ausgefeilten Konzept liegen kann, denn in der Rue de Louvre, unterhalb Paris’ berühmtester Detektei,  wählt man das Gericht nicht nach der Menükarte, sondern nach Düften aus. „Als ich mich entschloss, in Paris etwas zu eröffnen, wollte ich dem Ruf der Stadt in Sachen Mode und Kreation gerecht werden. Für mich arbeitet ein Parfümeur ähnlich wie ein Koch. Diese beiden Welten wollte ich zusammenbringen.“ Anne-Sophie suchte sich eine Nase, die Düfte speziell für ihre Gerichte kreiert. Drei Düfte und ebenso viele Menus stehen zur Auswahl. Die Wahl eines Parfums verpflichtet nicht, das jeweils passende Menu auch zu essen. Am Ende sollte der Gast nach seinem Gaumen und nicht nach seiner Nase entscheiden. „Die Methode wirkt dennoch wie eine Art Vorverkostung. Das Riechen der Düfte stimmt die Gäste ruhig. Sie vergessen den Stress draußen vor der Tür“, freut sich die Besitzerin.  

 

Auch für sie selbst hat die Zusammenarbeit mit dem Parfümeur ganz neue Horizonte geöffnet. „Ich lasse mich von diesem künstlerischen Milieu sehr inspirieren und habe lauter neue Ideen.“ Sie teste auch gerade noch sanftere Kochmethoden, die sie in Zukunft umsetzen will. Hat Anne-Sophie Pic die französische Küche mit ihrer Kunst feminisiert? Sie schüttelt bestimmt den Kopf. „Nein! Es sind nicht die Frauen, die eine feminine Küche schaffen, sondern die Männer, die Blüten und Blumen einführten.“ Das Weibliche in der Küche sehe anders aus. Die Autodidaktin, die selbst durch eine harte Schule ging, führt ihre Mitarbeiter mit sanfter Hand und leiser Stimme. „Bei mir wird nicht geschrien und ich bin eine sehr matriarchalische Chefin. Ich halte keine Konferenzen ab, sondern bevorzuge das persönliche Gespräch. Anfangs dachte ich, eine Frau sein zu müssen, die Härte zeigt. Nun denke ich, dass man vor allem sich als Frau treu bleiben muss. Mit all’ den Qualitäten und Schwächen.“