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Reportage

Kopien von Meisterhand

Moderne Sozialbauten, ein Dutzend, von Kränen umstellte Baustellen und vom Unkraut überwucherte Grundstücke bilden die Nachbarschaft des „Atelier de moulages“ der französischen Staatsmuseen. Das Atelier, das zur Aufgabe hat Originalkopien der bedeutendsten Bildhauerwerke von der Antike bis zur Moderne anzufertigen, sitzt in einem wenig einladenden, funktionalen 90er-Jahre Metallbau im Pariser Problem-Vorort Saint-Denis – nur wenige hundert Meter vom bekannten National-Fußballstadion entfernt. Dass die Gegend nicht so recht zu den Vorstellungen passen will, die man gemeinhin mit den prachtvollen, französischen Museen verbindet, ist schnell vergessen, sobald sich die Türe zum Atelier öffnet.

 

Drinnen, gleich neben dem Elektrokasten und dem Feuerlöscher verführen drei Marianne-Skulpturen in den Nationalfarben Blau-Weiß-Rot die Besucher mit ihrem gewagten Dekolletees. Im geräumigen Vorraum, der auch als Büro und Empfangszimmer dient, stapeln sich auf einfachen Holzregalen bis hinauf zur Decke weit über 250 Büsten und Klein-Skulpturen. Den Blick in die Ferne gewandt, die Hände anmutig gefaltet, den Körper muskulös gestreckt. Ein mit Computer bestückter Schreibtisch verschwindet fast völlig hinter einer drei Meter langen, liegenden Monumentalfigur einer griechischen Göttin. Im hinteren Regal dient der Kopf einer Madonna als Buchstütze, vor einem altrömischen Relief stehen Karteikästen und direkt daneben teilt sich ein zartes Kinderantlitz den engen Regalplatz mit einer ausgetrunkenen Kaffeetasse. „Bei uns gibt es viele lustige Zufälle. Es gesellen sich Dinge miteinander, die eigentlich nicht zusammen gehören“, lacht Arnaud Briand. Der 43-jährige Franzose ist Mouleur Statuaire, also Kunstformer und Gipsgießer, und darf sich seit 2015 „Meilleur Ouvrier de France“ nennen. Mit dieser hohen und lebenslang gültigen Auszeichnung, kurz „MOF“, werden in Frankreich besonders begabte Handwerker geehrt, die sich in einem anspruchsvollen Test als Meister ihres Fachs erwiesen haben. „Der Titel ist ein bisschen wie der heilige Graal“, erklärt Briand, der sich in der Klassifikation „dekorative Skulpturen aus Gips“ der Aufgabe stellte und reüssierte. „Es gibt nur vier oder fünf MOFs in ganz Frankreich in dieser Spezialisierung. Hier, im Atelier, bin ich der Einzige.“

 

Briand begann 2009 in Saint-Denis, als das renommierte Atelier des Louvre und der französischen Museen den Auftrag erhielt, die Garten-Skulpturen im Schloss Versailles durch wetterbeständigere Resin-Kopien zu ersetzen. „Ich hatte beim vorherigen Arbeitgeber sehr viel mit Resin gearbeitet und daher viel Erfahrung mit dem Material“, erklärt der Pariser, der als Quereinsteiger erst im Alter von 30 Jahren seine Leidenschaft für das Kunstgießer-Metier entdeckte. „Ich arbeitete vorher zehn Jahre sehr erfolgreich in der Gastronomie. Als mein damaliger Chef sein Restaurant schließen musste, stand ich vor der Wahl, selbst eine Bar zu eröffnen oder den Beruf zu wechseln.“ Ein dreimonatiges Praktikum führte die Entscheidung herbei. „Es gibt Momente im Leben, da weiß man einfach, welchen Weg man einschlagen muss. Meine Jahre in der Gastronomie helfen mir aber auch heute bei meiner Arbeit. So wie ich früher die Lieferungen für die Küche managte, organisiere ich jetzt meine Zutaten für den Abdruck eines Werkes. Man muss dabei sehr gut vorbereitet sein.“

 

Das sieht man: Auf Arnaud Briands Arbeitstisch liegt alles Nötige akkurat nebeneinander und wartet auf seinen Einsatz. Küchenutensilien, wie Teigschaber, Messer und Suppenkelle sind neben zahlreichen Spachteln, einer Metallbürste, Schere, Schmirgelpapier und Elektrowaage positioniert. Große Werkzeuge, wie Sägen und Elektrobohrer hängen griffbereit an der Wand. Die Fensterkonsole ist übersät mit Plastikbehältern voller Pinseln in allen Größen und Dicken. Ein ausgedientes Olivenglas ist mit weißem Spiritus gefüllt. „Der verträgt sich besonders gut mit Silikon. Zum Pinselreinigen ist das ideal.“ Arnaud Briand greift sich aus einer Packung ein paar blaue Einweg-Handschuhe und beginnt mit der Arbeit an einer rund 30 cm hohen Büste aus dem 18. Jahrhundert. „Den besten Abdruck erhält man immer vom Original. Aber wir haben hier alte Gipsformen, die sind fast 200 Jahre alt und manchmal in einem besseren Zustand als die Original-Skulptur“, erklärt er während er einen Polyvinylalkohol als Schutzpolitur auf die Büste pinselt.

 

Während diese Schutzschicht trocknet, mischt Briand das Silikon für die erste Schicht an. Er stellt einen Eimer auf die Waage und misst mit einem Wegwerf-Plastikbecker scheinbar nach Augenmaß die Inhaltsstoffe für das Elastosil  M 4514 ab. Mit einem Teigschaber rührt der muskulöse Pariser dann das Gemenge an, dabei überprüft er ständig die Textur. „Ich habe zwar ein Buch mit allen Rezepturen, aber wichtig sind vor allem die eigenen Erfahrungswerte. Weil viele Faktoren, wie z.B. auch die Raumtemperatur, eine große Rolle spielen können. Heute ist es ein bisschen kühl im Atelier. Das muss ich berücksichtigen.“ Bei ganz neuen Produkten hält sich Briand zuerst an die mitgelieferte, technische Mischempfehlung, aber er sieht es als seine Aufgabe an, die Rezepte zu perfektionieren. „Nur durch Ausprobieren kann man ein Produkt zu Höchstleistungen führen. Ich bin sehr neugierig und teste gerne aus. Dabei erkenne ich die Grenzen eines Produktes und kann abschätzen, was geht und was nicht.“ Seine Erfahrungswerte gibt er danach gerne an Hersteller weiter. Seine Wünsche auch. „Ich möchte vor allem die krebserzeugenden, mutagenen und reprotoxischen CMR-Stoffe eliminieren. Zusammen mit der Industrie versuche ich, weniger giftige Ersatzstoffe zu finden. Ich hatte bereits ein Produkt aus Frankreich entdeckt, aber die Realität holte mich ein: Das Silikon bliebt nicht an seinem Platz. Erst beim empirischen Test zeigen sich eben die Grenzen.“ Gerade beim Arbeiten am Abdruck sei es wichtig, den Anteil toxischer Stoffe zu minimieren. Aktuell probiert Arnaud Briand einen neuen Booster von Wacker aus, den Katalysator NEO, der weniger giftige Stoffe enthält und für einen schnellere Abdruck sehr geeignet ist. „Das Produkt ist für mich ein großer Schritt nach vorne. Um mal eine Vorstellung zu bekommen, was wir täglich so einatmen: Beim Auftrag in Versailles haben wir in nur eineinhalb Wochen 120 Kilo Silikon verarbeitet. Da sind eine Menge CRM-Stoffe im Spiel.“ Selbst bei einer kleinen Büste, wie dem gerade bearbeiteten Kopf aus dem 18. Jahrhundert, sind es immerhin zwei bis drei Kilo, weil die Skulptur bis zu viermal eingepinselt wird.

 

Bei jeder neuen Silikonschicht hat der Gussmeister leicht die Textur und die Zusammensetzung verändert sowie hier und da wenige Tropfen eines Katalysator oder einer thixotropen Flüssigkeit hinzugefügt. „Man erzielt ein besseres Ergebnis, wenn man bei den ersten beiden Schichten mit einem sehr flüssigen und danach mit einem dickeren Silikon arbeitet.“ Von der Figur tropft nun unablässig das Silikon auf den Arbeitstisch. Immer wieder schneidet der Gussmeister mit einer Schere die Tropfen ab und kontrolliert den Trocknungsfortschritt durch vorsichtiges Abtasten mit dem kleinen Finger. Rund eine halbe Stunde lässt der Experte zwischen den Schichten jeweils verstreichen. Die letzte Schicht wird zusammen mit einem Glasfaser-Netz aufgetragen, das die vorherigen etwas umhüllt. Für die schwierigen Stellen rund um die Augen, Mund, Ohren und Nase der Skulptur nutzt Arnaud Briand eine Spritze mit einem recht zähflüssigen Silikon, das er mittels eines thixotropen Verdickungsmittels angereichert hat und großzügig aufspritzt. Ungleichmäßigkeiten werden damit ausgeglichen und es entsteht eine homogene Oberfläche, die er anschließend mit einem angefeuchteten Schwamm vorsichtig abgetupft. „Damit zerstöre ich Luftblasen, die sich beim Aufstreichen gebildet haben.“ Die Rückseite der Skulptur ist bereits dick eingepolstert und mit einer Silikonpaste verstärkt. „Bei der Paste muss man ganz schnell und konzentriert arbeiten. Sie trocknet in nur fünf Minuten.“

 

Arnaud Briand nutzt vor allem zwei Silikon-Sorten: Elastosil M4514 für die Anfertigung von Abdrucken im vertikalen Zustand, weil dieses Silikon sehr kontrolliert aufgetragen werden kann. Und Elastosil M4630 A/B für gegossene Abdrücke. „Das Gießen von Abdrücken ist technisch sehr anspruchsvoll. Man kann sich während des Gusses keinen Fehler erlauben, denn man kann nichts korrigieren. Das Elastosil M4630 eignet sich deshalb gut, weil es sich nicht zusammenzieht.“ Es ist sozusagen kalkulierbarer in der Nutzung, auch weil es weniger auf Temperaturunterschiede reagiert. Das Resultat und die Qualität der Arbeit sieht man jedoch erst nach Aufschneiden des Modells. „In der Regel sind Gussmodelle haltbarer und besser als vertikal erstellten Abdrucke“, erklärt der Franzose und streicht sich nach getaner Arbeit über das bürstenkurze Haar.

 

Ein Gipsabdruck kann, wenn er niemals mit Wasser in Berührung kommt, bis zu 1000 Jahre halten, erklärt der Experte. Und ein Silikon-Modell? „Das können wir noch nicht mit Sicherheit sagen, denn wir verwenden das Material erst seit 50 Jahren.“ Es kommt auch darauf an, wie häufig aus dem Abdruck eine Kopie gegossen wird. „Manche unserer Abdrücke hier sind 30 bis 40 Mal schon benutzt worden. Andere nur ein einziges Mal.“ Besonders gefragt seien Skulpturen von Molière, Voltaire und die Büste von Louis XIV des Bildhauers Gian Lorenzo Bernini. „Der Italiener ist einer meiner Lieblingskünstler. Er ist ein Zeitgenosse von Michelangelo, aber in meinen Augen ist Berninis Werk noch größer als das von Michelangelo. Seine Skulpturen haben eine außergewöhnliche Finesse.“

 

Arnaud Briand ist am Ende seines Arbeitstags im „Atelier des Moulages“ von Kopf bis zu den Füßen mit weißen Sprenkeln von Gips-, Silikon- oder Resin-Spritzern übersät. Auch der Boden, die Arbeitstische, die Werkzeuge, einfach alles im „Atelier de moulages“ ist mit den weißen Tupfen „bekleckert“, nur die Skulpturen erstrahlen in makellosem Weiß. Hat er ein Projekt vom dem er träumt? Der zweifache Vater braucht nicht lange zu überlegen: „Das schönste Projekt ist immer das, was man noch nicht gemacht hat“, sagt er im Gehen und schließt hinter sich die Türe des Ateliers. Seine stummen Bewohner, die Hundertschaften von Büsten und Skulpturen, warten nun darauf, dass der Neuzugang, der heute unter den Händen von Arnaud Briand entstand, aus der Trockenkammer kommt und sich zu ihnen ins Regal gesellt.