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Die Boden-Retter aus Brandenburg

Die Boden-Retter aus Brandenburg

Plötzlich war da dieser Abgrund, mitten im Maisfeld. Ein mannshoher Erdschlund, der sich im Acker auftat wie ein aufgerissenes Maul. Der Anblick, sagt der Brandenburger Landwirt Jens Petermann, habe ihn entsetzt wie wenig zuvor in seinem Leben. Der tiefe Riss, der sich hier vor seinen Augen durch die Erde zog – er grub sich auch in sein Weltverständnis. So muss es sich anfühlen, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Tage zuvor hatte es wie aus Eimern geschüttet. Drei Starkschauer in zehn Tagen, Unmengen von Wasser. Weil es nicht in den Boden sickern konnte, floss es in Rinnsalen zwischen den Maisstengeln ab, Hunderte kleine Bäche verbündeten sich zu einem strömenden Schlammgeflecht und gruben sich ein Flussbett mitten im Acker.

An einer schwachen Stelle gab der Boden schließlich nach und brach auf wie eine Wunde. Tatsächlich war er bis ins Mark verletzt. „Bis dahin dachte ich, ich hätte immer alles richtig gemacht als Landwirt“, sagt Petermann, der Agrarwissenschaft studiert hat. Gedüngt, gespritzt, gepflügt und den Boden im Winter blank liegen gelassen, um im Frühjahr die nächste Kultur auszusäen. „Jetzt musste ich feststellen, dass ich gescheitert war. Ich hatte das Leben unter meinen Füßen ignoriert.“

Seltsam eigentlich. Nichts ist uns physisch näher als die Erde, auf der wir uns bewegen. Die wir beackern, bebauen, bepflanzen – und die unsere sterblichen Reste bergen wird. Unser Boden trägt und nährt uns. Unsere Mutter Erde ist Quell allen Lebens. Doch anders als das Klima, das Meer oder die Regenwälder, um deren Bestehen wir zunehmend besorgt sind, ist der Boden für die meisten Menschen etwas, das einfach verlässlich da ist. Leider ist dem nicht so.

Laut Weltagrarbericht gehen jedes Jahr 24 Milliarden Tonnen fruchtbaren Bodens durch Erosion verloren – das entspricht mehr als drei Tonnen pro Erdbewohner. 970 Millionen Tonnen verliert allein die Europäische Union jedes Jahr. Diese Menge würde genügen, um die Stadt Berlin einen Meter höher zu legen. Neben der Erosion lässt die Gier nach Bauland die Böden unter einer Betondecke verschwinden. Allein in Deutschland kommen täglich 60 Hektar Land durch Versiegelung abhanden, das sind mehr als 54 000 Fußballfelder im Jahr.

Malträtiert, ausgelaugt, überdüngt und mit Pestiziden verseucht, geht vielerorts eine Unterwelt zugrunde, deren überlebenswichtige Komplexität wir gerade erst zu verstehen beginnen. Was vor unseren Augen versandet, verschwindet und verweht, ist der vielfältigste Lebensraum der Erde. In einem Kubikmeter oberer Erdschicht leben mehr Organismen, als es Menschen auf der Erde gibt. „Boden ist keine Nährstoffbüchse, als die ihn viele Menschen immer noch sehen“, sagt Franz Rösl von der Interessengemeinschaft gesunder Boden in Regensburg. „Er ist ein lebendiger Organismus. Als solchen müssen wir ihn begreifen. Und uns fragen, was wir tun können, um seine Lebendigkeit zu schützen.“

Noch geschieht das zu wenig. Noch wird die vergleichsweise dünne Erdpelle vielerorts so behandelt, als sei sie eine unerschöpfliche Ressource. Vor allem die industrielle Landwirtschaft setzt dem Boden zu. Paradox, da sie doch von ihm lebt. Schon immer mussten Menschen, die die Gesundheit ihrer Böden über längere Zeit missachteten, diese Böden irgendwann zurück- lassen. In Spanien hat sich die Provinz Murcia, deren Felder unter dem industrialisierten Gemüseanbau ächzen, fast zur Gänze in ein Trockengebiet verwandelt. 90 Prozent der Fläche sind von Verwüstung bedroht. Weltweit frisst die Desertifikation, die fortschreitende Wüstenbildung, jedes Jahr eine Fläche der Größe Bayerns. Mehr als zwei Milliarden Hektar vormals produktiver Landflächen gelten nach Angaben der UN inzwischen als degradiert.

„Würde das Bodenleben vor Hunger schreien, bräuchten viele Landwirte einen Gehörschutz bei der Feldarbeit“, sagt er, so mangelernährt sei der Boden vielerorts. Auf seinem Roggenfeld ist nur das Summen der Bienen zu hören, die sich an den Blüten laben. Zwischen dem Roggen wächst Wicke. Petermann kombiniert stets eine zweite Kultur mit Getreide. Behutsam sticht er einen Bodenziegel aus und präsentiert ihn auf dem Spatenschild wie ein Stück Kuchen. „Ein guter Boden ist ein schönes, gut verbautes Gebilde“, sagt er. „Riechen Sie mal.“ Es duftet nach Gartenerde. Wurzeln durchziehen den Erdziegel wie ein feines Adergeflecht, etliche sehen wie paniert aus. Ein Hinweis auf Mykorrhiza-Pilze. Diese lagern sich an den Wurzeln an und vergrößern deren Oberfläche um das Mehrfache. Sie versorgen die Pflanze mit Nährstoffen und erhalten im Austausch Kohlenhydrate. Petermann freut sich über ihren Anblick ebenso wie über die winzigen Regenwurmkötel auf der Erde – ein weiteres Indiz für reges Kreuchen und Fleuchen unter Tage.

Dehydrierter Ackerboden vs. Mikrobiom des Bodens
Obwohl es seit Wochen nicht mehr geregnet hat, ist sein Ackerboden nicht dehydriert. Im Nachbarfeld dagegen mäandern Trockenheitsrisse über die Krume. „Entbiologisierten Boden“ nennt das Petermann. Fungizide und Pestizide haben das Leben darin verkümmern lassen, schweres Ackergerät den Boden so verdichtet, dass er Wasser nicht mehr gut aufnehmen kann. Gesunder Boden ist ein Ort voller Leben. Regenwürmer (die angeblich schon Kleopatra für heilig erklärte und deren Export sie verbot) sind nur dessen sichtbarste Vertreter. Zu ihnen gesellen sich Schnecken, Asseln, Spinnen, Käfer, Hundert- und Tausendfüßer, Borstenwürmer, Rädertiere, Springschwänze, Milben und Fadenwürmer, von den Geißeltierchen und den Billionen Bakterien, Pilzen und Algen gar nicht zu reden. Über eine Milliarde Bodenbakterien finden sich allein in einem Gramm gesunder Erde. Mikrobielle Prozesse sind an sämtlichen Nährstoffkreisläufen im Boden beteiligt und damit ein essenzieller Faktor für dessen Qualität.

Das hochkomplexe Mikrobiom des Bodens beginnen Wissenschaftler erst seit einigen Jahren zu begreifen. „Dank der modernen Methoden der Genom- und Proteomforschung gelingt es uns zunehmend, die enorme genetische Vielfalt der Bodenmikroben sichtbar zu machen und deren Funktionen zu verstehen“, erklärt Michael Schloter, Leiter der Abteilung für vergleichende Mikrobiomanalysen am Helmholtz Zentrum München. Mittels Hochdurchsatzsequenzierung von aus dem Boden extrahierten Nukleinsäuren untersuchen Mikrobiologe Schloter und sein Team ganze Populationen von Mikroben.

Manche mobilisieren oder speichern Nährstoffe, andere geben stimulierende Phytohormone ab oder halten schädliche Mikroorganismen in Schach. Die Mikroorganismen erhalten dafür leicht verwertbaren Kohlenstoff als Gegenleistung von den Pflanzen. „Entsprechend bilden Mikroorganismen und Pflanzen eine Zweckgemeinschaft, in der beide Partner aufeinander angewiesen sind“, erklärt Schloter. „Wir wissen inzwischen auch, dass Mikroorganismen in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren. Bei der relativ geringen Genomgröße von Bakterien, Archaeen oder Pilzen sind komplexe Prozesse wie der Abbau von Lignin oder anderen schwer abbaubaren Substanzen nur dann umsetzbar, wenn Mikroorganismen Netzwerke bilden und sich zu funktionellen Einheiten zusammenschließen“, so Schloter.

In Sachen Teamfähigkeit sind die Unterweltler uns oberirdischen Lebewesen voraus, allen voran die Pilze: „Sie geben fast alle Mineralien, die sie im Boden finden, an die umliegenden Pflanzen ab“, erklärt der Salzburger Biologe und Pilzexperte Robert Hofrichter. „Sie leben uns vor, dass es auch anders funktioniert. Natürlich gibt es auch bei ihnen unzählige Parasiten. Das Wesentliche für viele Pilze ist aber die Symbiose, die Kooperation, die Zusammenarbeit.“

Nicht nur Bäume kommunizieren über gigantische Pilzgeflechte (das größte bislang entdeckte Myzel ist das neun Quadratkilometer große Myzel eines 2400 Jahre alten Hallimaschs im US- Bundesstaat Oregon). Auch andere Pflanzen nutzen es zum Austausch. Britische Forscher fanden heraus, dass von Blattläusen befallene Ackerbohnen ihre Nachbarn über das Pilznetzwerk informieren. Gleiches beobachteten die Wissenschaftler bei schädlichem Pilzbefall der Blätter. Kooperation und Vielfalt prägen die Lebensgemeinschaft unter der Erde. Warum nicht auch oben?

Regenerative Landwirtschaft
Der vormalige Monokulturschaffende Jens Petermann arbeitet heute mit möglichst vielfältigen Fruchtfolgen. Er sät Untersaaten, Zwischenfrüchte und zum Teil mehrjährige Mischkulturen, die tief wurzeln und den Boden lockern. Er düngt mit Leguminosen und dem Mist seiner Kühe und bearbeitet den Acker nur minimal, um das Bodenleben nicht übermäßig zu stören. Nackten oder bis auf Ellenlänge umgepflügten Boden wird man bei ihm nie sehen, der Anblick bereitet ihm wie den meisten bodenbewussten Bauern fast Schmerzen. „Vegetation ist wie die Bekleidung des Bodens“, sagt Petermann, „sie schützt vor Austrocknung, UV-Strahung und zu hohen Temperaturen.“Hecken und Baumstreifen säumen Petermanns Felder, sie bremsen die Erosion durch Wind und schaffen ein Mikroklima. Die Temperatur im Gras liegt dort bei 21 Grad, in einem konventionell beackerten Biogasmaisfeld in unmittelbarer Nachbarschaft zeigt das Bodenthermometer schon morgens 40 Grad. Keine Wolke am Himmel, die Luft flirrt vor Hitze, es ist das dritte Dürrejahr in Brandenburg. In Dannenberg ist der Dorfteich ausgetrocknet, weiße Fischmumien liegen dort auf dem blanken Grund. Erste Gemeinden diskutieren über Trinkwasserrationierung. Petermann steht der Schweiß auf der Stirn. „Ich weiß nicht, ob ich noch genug Zeit habe, das zu schaffen“, sagt er, die Augen mit seiner erdbestäubten Hand vor der Sonne schützend. „Uns droht hier die Versteppung.“ Dass manche Großgrundbesitzer nun Brunnen graben und das versiegende Grundwasser anzapfen wollen, hält er für „Endzeitaktionismus“.

Wer mit Bodenaktivisten spricht, hört den Satz „Wir arbeiten gegen die Zeit“ oft. Auch Cornelia Rumpel spricht ihn aus. Die Biogeochemikerin und Leiterin der Soil Organic Matter Group in Paris forscht zu den Kohlenstoffkreisläufen im Boden. Das klingt nicht ganz so existenziell, wie es ist, denn gesunde Böden sind hocheffiziente Kohlenstoffspeicher. Als solche könnten sie dazu beitragen, die Klimakrise zu entschärfen. „Wir müssen alles dransetzen, wieder mehr Kohlenstoff im Boden zu binden“, sagt Rumpel. Bisher ging es eher in die andere Richtung. „Seit Beginn der intensiven Landwirtschaft“, so Rumpel, „haben die Böden global rund 130 Gigatonnen Kohlenstoff verloren.“

Auch deshalb fällt die Bilanz der vormals gefeierten „Grünen Revolution“ der Sechzigerjahre nach Meinung vieler Experten negativ aus. Zwar konnten Länder wie Indien ihre Ernteerträge durch große Landmaschinen, Bewässerung, Kunstdünger, Pestizide und dank optimierten Saatguts um das Zwei- bis Dreifache steigern. Doch der Preis ist hoch. Parallel zu den Ernteerträgen stieg vielerorts auch die Zahl der Krebserkrankungen. Die intensive Bewässerung ließ in vielen Regionen die Grundwasserspiegel sinken, Dünger, Pestizide und massive Bearbeitung förderten die Degradierung von Boden und den Verlust von Kohlenstoff.

Der Kohlenstoffspeicher im Boden wird als Humus bezeichnet. Dieser umfasst die zersetzte organische Substanz pflanzlichen Ursprungs, die zu etwa 60 Prozent aus Kohlenstoff besteht. Je höher der Humusanteil, desto mehr Nährstoffe können gebunden werden und desto fruchtbarer und wasseraufnahmefähiger ist der Boden. „Man müsste“, erklärt Rumpel, „den Kohlenstoffvorrat in den Böden weltweit nur um vier Promille erhöhen, um einen großen Teil der globalen CO2-Emissionen auszugleichen.“ Die internationale Initiative „4 per 1000“, deren wissenschaftlichem Komitee Cornelia Rumpel angehört, setzt sich dafür ein. Sie fördert regenerative Landwirtschaft und Humusaufbauprogramme. Auch das ist ein Rennen gegen die Zeit, denn der Humus macht sich vom Acker. Nur noch ein Sechstel der deutschen Ackerböden kommt auf den empfehlenswerten Humusanteil von vier bis acht Prozent, 30 Prozent der Böden haben nur noch einen Anteil von einem Prozent.

In ihrem Labor in Thiverval-Grignon vor den Toren von Paris forschen Rumpel und ihr Team an der Entwicklung von organischen Bodenverbesserungsmitteln. Ihre eifrigsten Mitarbeiter sind dabei Regimente von Regen- und Kompostwürmern, die Rumpel von einer Wurmfarm bezieht. „Unsere Versuche belegen, dass Würmer einen erheblichen Beitrag zur stabilen Karbonbindung leisten, wenn man dem Kompost bestimmte Mineralien zufügt“, erklärt Rumpel. Das Problem sei das Upscaling: Wie die schlängelnden Bodenarbeiter in die industrielle Landwirtschaft integrieren? Gigatonnen von Würmern wären dafür vonnöten. Und sie allein genügen nicht, um Boden zu retten, der seit Jahrzehnten an der Nadel der Agrochemie hängt.

„Was wir brauchen, ist ein neues Bodenbewusstsein – bei den Bauern, aber vor allem in der Gesellschaft“, sagt Mathias Forster, Geschäftsführer und Stiftungsrat der Bio-Stiftung Schweiz, die einen Bodenfruchtbarkeitsfonds gegründet hat. Politik, Agrochemie und Konsumenten setz- ten die Landwirte massiv unter Druck. Wetterextreme und die zunehmende Pestizidresistenz vieler Unkräuter und Schädlinge lassen die Ernteerträge oft einbrechen. Die EU-Agrarsubventionen fördern über ihre Flächenprämien vor allem Großgrundbesitz, während Kleinbauern mit geringer Flächenausstattung aufgeben müssen. Forster berichtet von „hohen Suizidraten“ unter Bauern. Mancherorts haben regionale Bauernverbände 24-Stunden-Notruf-Telefone für Landwirte eingerichtet, von denen viele an der schwindenden Fruchtbarkeit ihrer Äcker, der gesunkenen Wertschätzung und dem gesellschaftlichen Druck verzweifeln. „Im Konzept der industriellen Landwirtschaft ist der Boden nur dafür da, damit die Pflanze nicht umkippt“, kritisiert Forster.

Aber er weiß auch von zahlreichen Boden- und Humusinitiativen rund um den Globus. „Das Problem wird zunehmend erkannt, es ist allerhöchste Zeit.“ Der Bodenfruchtbarkeitsfonds fördert Bauern im Dreiländereck am Bodensee, die ihren Böden mit aufmerksamer Zuwendung begegnen. Die ersten Bilanzen des Pilotprojekts fallen positiv aus. Mancher Landwirt kann einen Humusanteil seines Bodens von sieben Prozent vorweisen.

In Brandenburg ist das eine ferne Zahl. Hier liegt der Humusanteil oft nur noch bei einem Prozent. Zugleich röchelt das Land unter extremer Dürre. Wer Ende Juli über die brandenburgischen Dörfer fährt, stößt auf von Hitze und Wassernot gezeichnete Landschaften – Sandflächen, wo einstmals Erde war, haushohe Staubwolken, die Agrarmaschinen aufwirbeln, Erosionsrinnen im Acker und Wälder, die vor Trockenheit knistern. „Noch nie haben wir schon im Frühjahr in Brandenburg solche Staubstürme gehabt“, berichtet Haiko Pieplow, der sich am Berliner Umweltbundesamt mit den „Grundsatzfragen der Nachhaltigkeit“ beschäftigt. Der promovierte Bodenkundler empfängt uns in seinem Kleingarten am Rande der Hauptstadt. Schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt und schwarze Erde an den Händen. Pieplow ist ein „Schwarzseher“, er nennt sich selbst so. Aber er meint es gut.

Seit Jahren kämpft der 63-Jährige für die Terra preta, die schwarze Erde, die schon indigene Völker in Amazonien vor 7000 Jahren verwendeten. Sie reift vor allem durch die Zugabe von Pflanzenkohle und mit Dung versetztem Kompost. Dank ihrer größeren Oberfläche wirkt die Pflanzenkohle nicht nur als Wasserspeicher in der Erde, sie bindet auch überdurchschnittlich viele Nährstoffe im Boden und fördert die Humusbildung. Pieplows überbordender Garten zeigt das. Als er die kleine Fläche übernahm, war der Boden ein sandiges Nichts. Jetzt gedeihen Früchte in allen Ecken und Winkeln. Blauer Wein, Tomaten, Stauden, sogar eine Feige und ein Granatapfelbaum wachsen im Wintergarten.

Schon länger ist Pflanzenkohle der Trend unter Humusaktivisten, nur Pieplows Karriere hat sie nicht befeuert. Mehrfach schon sei er in seiner Behörde strafversetzt worden, berichtet der Bodenrebell. Das Vorgehen mancher Agrarkonsortien, die mit ihren Monokulturen brandenburgischen Boden ausbeuten, hält er für ein Verbrechen. „Warum geißelt niemand Lindhorst und Co.? Warum kann man jemanden, der nachfolgenden Generationen den Boden entzieht, nicht enteignen und das Land den Kommunen zurückgeben?“, klagt er an. Wenn nicht bald etwas passiere, würden ganze Landstriche in Brandenburg zu Wüsten, „weil wir keinen Humus mehr im Boden haben“, sagt Pieplow. „Wenn wir die Böden heilen wollen, müssen wir wieder in Kreisläufen denken.“

ten, eingezäunten Weide. Nebenan wiegen sich hohe Gräser und Wiesenblumen im Wind. Bösel und sein Viehhirte öffnen das Gatter und lassen die Herde auf die Nachbarweide strömen. Ein schönes Bild ist das – in einem Land, das seine Rindviecher größtenteils in Mastställe und Melkbatterien gesperrt und von den Weiden verbannt hat.

It's not the cow - it's the how

Aber wie damit Boden gewinnen, wo doch Kühe unter Klimakillerverdacht stehen? „It’s not the cow, it’s the how“, entgegnet Bösel. Eine Frage des Wie. „Was Kohlenstoffspeicherung und Humusaufbau im Boden angeht, kann das niemand besser als die Kuh.“ Weil die Tiere täglich umgestellt werden, fressen sie die Pflanzen nicht bis zum Boden ab, sondern regen durch das maßvolle Weiden deren Wurzelwachstum an. Die von ihnen in den Boden getretenen Pflanzenreste aktivieren die Bodenorganismen, die Kuhfladen düngen.

Als zweite Truppe der Bodenarbeiter rücken Hühner an. In manövrierbaren Gehegen, die ebenfalls täglich versetzt werden, scharren sich die Federviecher durch die Hinterlassenschaften der Kühe und verteilen diese. Sie fressen die Larven in den Kuhfladen, bringen ihren eigenen Dung ein – und ziehen sich abends in den fahrbaren Hühnerstall zurück, um dort Eier zu legen. Ein vollendeter Nährstoff-Kreislauf, der sich „Holistic Grazing“ nennt und bei regenerativen Farmern in Amerika und Australien großer Beliebtheit erfreut. „Durch dieses System sorgen wir für eine fortlaufende Erneuerung des Bodens, sparen Dünger und Futter und erhöhen unsere Produktivität“, rechnet Bösel vor.

Denn rechnen soll es sich. Bevor er die Seiten wechselte, arbeitete Bösel als Investmentbanker und Venture-Capitalist. Seine dandyhaften Haare erinnern noch an das alte Ich, auch wenn sie jetzt unter einer nach hinten gedrehten Baseballkappe stecken. „Mir ist wichtig, dass ein Modell skalierbar und auch ökonomisch ist“, sagt der studierte Agrarökonom. Wenn eine Methode auf dem brandenburgischen Problemboden funktioniert, so sein Credo, dann funktioniert sie auch im Rest der Welt. Die pauschale Lösung gibt es nicht. Es ist ein großes Bündel von Maßnahmen, und Bösel lässt wenig davon unversucht. „Du kannst“, sagt er, „nur übers Falschmachen lernen. Denn es gibt niemanden, den du fragen kannst. Weil niemand es so macht.“

Zum Beispiel in großem Stil Bäume zu pflanzen. Mehr als 25 000 Bäume und 100 000 Baumsamen, darunter jegliche Arten von Obst- und Nussbäumen sowie schnell wachsende Erlen, Weiden und Pappeln hat Bösel in den letzten zwölf Monaten mit Unterstützung seines Teams und freiwilliger Helfer gepflanzt. Auf einige Felder hat er in hofeigenen „Bioreaktoren“ angesetzten Intensivkompost ausgebracht, um die Humusbildung anzuregen. Bösel experimentiert mit mehrjährigen Getreidesorten, die Zeit haben, um in tieferen, wasserführenden Bodenschichten zu wurzeln. In 20 bis 30 Jahren werde man in Brandenburg wegen der Trockenheit kein herkömmliches Getreide mehr anbauen können, davon ist er überzeugt.

Trotzdem ist Bösel kein Schwarzseher, er strotzt nur so vor Optimismus. „Landwirtschaft ist der größte Hebel, um die Probleme unserer Zeit zu lösen“, sagt er. „Indem ich zum Beispiel in Tiere, mehrjährige Früchte und Bäume investiere, die allesamt dazu beitragen, Boden aufzubauen und ein feuchteres Mikroklima zu schaffen.“ Dass derlei möglich ist, beweist ein drei Hektar großes Versuchsfeld, das Bösel und seine Mitstreiter angelegt haben. Knapp kniehohe Mulchstränge sind dort zu 19 doppelreihigen Hügelbeeten aufgeschichtet und mit mehr als 200 verschiedenen Bäumen sowie Obst-, Nuss- und Gemüsepflanzen besetzt. Junge Bohnen stehen unter Pflaumenbaumsetzlingen, dazwischen fingern Kartoffeln aus den Hügelformationen, Beerensträucher wachsen zwischen Feigenbäumen. Hier und da recken Sonnenblumen die Hälse.

Was wie ein wildes Durcheinander aussieht, folgt den klaren Prinzipien der syntropischen Landwirtschaft – einem Agroforst-System, das Baumstreifen mit Acker- und Gemüseanbau kombiniert. Entwickelt wurde die Syntropie von dem Schweizer Landwirt Ernst Götsch, der damit in seiner Wahlheimat Brasilien marodes Land und ausgelaugte Böden in ein grünes Paradies mit sprudelnden Quellen zurückverwandelte. Die Bäume fungieren als Windschutz und erhöhen über die Wasserverdunstung ihrer Blattmasse die Luftfeuchtigkeit. Das darunter angebaute Obst, Gemüse und Getreide fördert die Biodiversität im Boden und so die Fruchtbarkeit und Resilienz der Pflanzen.

„Agroforst ist die Zukunft“, sagt Bösel und buddelt eine Handvoll Erde aus dem Baumstreifenbeet. Sie ist dunkel, duftet nach Wald, ein Regenwurm schlängelt sich wie bestellt aus dem Häuflein. Und obwohl die Beete noch nie gegossen wurden und es in Brandenburg seit acht Wochen nicht mehr geregnet hat, ist die Erde feucht.

Syntropische Landwirtschaft

Benedikt Bösel ist der erste syntropische Bauer in Deutschland. Für ihn gehören Bäume zum System. Nur leider passen sie, wie so viele landwirtschaftliche Innovationen, nicht ins gängige agrarpolitische System. Bösel erhält keine EU- Subventionen. Dafür hat er Universitäten ins Boot geholt, die seine Bodenexperimente wissenschaftlich begleiten. Eine Drone sammelt regelmäßig Wachstumsdaten der Pflanzen, alles wird akribisch dokumentiert, was sich bewährt, wird skaliert. Gemeinsam mit Syntropie-Pionier Ernst Götsch forciert Bösel die Produktion von Landmaschinen für das Agroforst-Konzept.

Menschen zusammenbringen und fruchtbare Kooperationen anstoßen – Benedikt Bösel kann das gut. „Ich will Alt Madlitz zu einem Ort machen, wo man Landnutzung neu denkt“, sagt er. Man ist geneigt zu glauben, dass ihm das gelingen wird. Fast täglich führt der Paradenetzwerker Wissenschaftler, Ministeriumsdelegationen oder Influencer über seinen Hof, er veranstaltet Workshops mit Farming-Experten wie Joel Salatin oder Gabe Brown, spricht auf Symposien und sitzt in einigen Gremien. Was Kooperationen und Symbiosen angeht, kann es Bodenarbeiter Bösel mit jedem Mykorrhiza-Pilz aufnehmen.

Das Myzel der Bodenbewegten breitet sich weltweit aus. Wir können nur hoffen, dass es schnell genug wächst. Wir haben nur diesen einen Boden.