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Emmas Tränen an der Treppe

Ein Tumor beschädigte das Hormonzentrum im Kopf der zehnjährigen Emma. Seither nimmt sie täglich Hormone, um zu überleben. Verändert sie das als Mensch? 

Emma war vier, als ihre Eltern sich zu fragen begannen, ob mit ihr alles in Ordnung sei. Dass es an den Hormonen liegen könnte – wer denkt an so was bei einer Vierjährigen? Auf einmal wollte Emma, die, ebenso wie ihre Eltern, in Wirklichkeit anders heißt, keine Treppen mehr steigen. Blöd, wenn man im vierten Stock Altbau ohne Lift wohnt. Heulend saß sie auf den Stufen. „Ich geh keinen Schritt mehr!“, verkündete sie. Vielleicht nur das Trotzalter? Aber dann diese Schlappheit. Ständig war Emma müde, lustlos. Auf der Wachstumstabelle an der Garderobentür klebten die von den Eltern alle paar Monate angebrachten Messstriche dicht aneinander. Emma wuchs kaum mehr.

In der Kita zog sie sich gerne in eine Ecke zurück und spielte mit kleinen Kieselsteinchen. Stundenlang konnte sie so sitzen, still und versunken in ihrer zusammen geschnurrten Welt. Toben, klettern, Fangen spielen – Emma mochte das nicht mehr.  Zuhause offenbarte sie eigentümliche Essensvorlieben. Am liebsten nur noch Nudeln mit Pesto, aber unbedingt unvermischt. Und Wasser, Wasser, Wasser. Emma entwickelte einen unbändigen Durst. Zwei bis drei Liter am Tag kippte das zierliche Mädchen in sich hinein, wurde panisch, wenn man unterwegs nichts zu trinken dabei hatte. Auch nachts musste jetzt immer eine Flasche Wasser neben ihrem Bett stehen. Jeden Morgen war sie leer. Keine Nacht ohne Toilettengänge mehr, irgendwo muss das Wasser ja hin. 

Natürlich machten sich die Eltern Sorgen. „Ihre Haut veränderte sich“, erzählt die Mutter Bettina Ahrens. „Sie wurde plötzlich weiß und sehr weich. Man fragt sich: Stimmt da was nicht oder ist das alles nur Einbildung?“

Leider war es keine. Ein Jahr später, nach einigen diagnostischen Verfahren, die unter anderem Diabetes mellutis ausgeschlossen hatten, kam Emma in einem Münchner Krankenhaus in die Kernspin-Röhre. „Kein Wunder, dass es Ihrer Tochter nicht so gut geht“, teilte die Radiologin der Mutter im Beisein der Tochter mit. „Sehen Sie mal, sie hat ja einen Gehirntumor.“

Danach, sagt Bettina Ahrens, sei alles im Nebel gewesen. Die verstörte Tochter erst mal nur von dieser grobfühligen Ärztin wegbringen, den Partner anrufen und versuchen, das Unfassbare zu begreifen. 

Emma hat ein sogenanntes Kraniopharyngeom, eine Fehlbildung im Kopf, die auf falsch entwickeltes Gewebe zurückgeht. Im Innersten ihres Gehirns war eine Geschwulst gewachsen. Kein bösartiger Tumor zwar, aber dennoch fatal, weil er auf das wichtigste Hormonzentrum drückt. In den benachbarten Hirnarealen Hypophyse und Hypothalamus werden Hormone gebildet und gesteuert, die für Wachstum, Gewichtsregulation, Pubertätsentwicklung und Flüssigkeitshaushalt verantwortlich sind (s.Kasten). Die Ausfallerscheinungen dieser Hormone hatten sich bei Emma schon bemerkbar gemacht. Auch der Sehnerv kann durch die Geschwulst so nachhaltig verletzt werden, dass die Betroffenen erblinden. 

Von einer Million Kindern entwickeln statistisch gesehen etwa zwei ein Kraniopharyngeom, das immer an dieser zentralen Stelle auftritt und in der Regel unmittelbar nach Entdecken operativ entfernt werden muss. Manche Neurochirurgen öffnen dafür den Schädel und extrahieren mit dem Tumor zumeist auch Teile der Hypophyse. Bei Emma wurde die viereinhalb Zentimeter große  Geschwulst über einen Zugang durch Nase und Stirn in einer fünfstündigen Operation entfernt. Seither hat Emmas Hypophyse ihren Dienst beinahe ganz eingestellt, so richtig überprüfen kann man das nur mit sehr riskanten Tests. Zwar ist sie noch vorhanden, aber sie arbeitet derzeit kaum noch.

In einer Welt ohne künstliche Hormone, vor 100 Jahren, wäre Emma zwei Tage nach der Operation infolge des Hormonmangels gestorben. So aber lebt sie ein ziemlich normales Leben. Allerdings muss sie – just um diese Normalität zu wahren – tagtäglich künstliche Hormone schlucken und spritzen müssen. Morgens fünf 7 Milligramm Hydrocortison, 10 Milligramm des Antidiuretischen Hormons ADH, das den Wasserhaushalt und die Nierentätigkeit reguliert  und 75 Milligramm des Schilddrüsenhormons L-Tyroxin. 

Abends noch mal ADH, damit sie die Nacht durchschlafen kann und nicht alle drei Stunden aufs Klo muss. Zusätzlich muss jeden Abend das Wachstumshormon Somatropin in den Oberschenkel gespritzt werden – aus einem Pen, der in der Kühlschranktür neben den Milchtetrapacks lagert. 

Allein das Wachstumshormon kostet im Monat gut 2000 Euro. Emma muss oder darf es spritzen, bis sie die Grenze zur Kleinwüchsigkeit in Höhe von 156 Zentimetern hinter sich gelassen hat. Ob die Krankenkasse danach weiter bezahlt, ist noch nicht klar. „Wir wünschen uns das“, sagt der Vater Holger Ahrens. „Schließlich wäre Emmas familiäre Normgröße 174 Zentimeter. Außerdem ist das Wachstumshormon wichtig für die Entwicklung der Leber, des Gehirns und der Knochen.“   

Die tagtäglichen Hormongaben gehören zum Alltag der Familie Ahrens. Emma verträgt sie gut, sie hat sich an die Tabletten gewöhnt und nimmt sogar die allabendliche Spritze tapfer hin. Mittlerweile setzt sie sich diese auch schon mal selbst. Und doch haben die künstlichen Hormone das Leben der Familie verändert. Haben sie auch Emma verändert?

Das verstaubte Glas mit den gesammelten Kieselsteinchen steht im Regal hinterm Esstisch, ein Relikt aus der Zeit, als Emma noch das Mädchen war, das zurückgezogen in der Ecke saß. Wie verwandelt sie heute, fünf Jahre später ist. Die Zehnjährige ist die vier Stockwerke bis zur Dachwohnung der Eltern mit ihrem Ranzen hoch gestürmt. Sie erzählt sprudelnd, gestikulierend, immer in Bewegung. Heute war ein doofer Tag in der Schule. In der Pause wollte niemand mit ihr spielen, das gibt’s schon mal. „Ich war traurig, musste weinen, eigentlich hätte ich da eine von den Stresskapseln nehmen sollen, aber da habe ich nicht dran gedacht“, plappert Emma. Es sei dann auch so gegangen.

Die „Stresskapsel“, das sind zwei Extra-Milligramm des Stresshormons Hydro-Cortison. Emma hat sie immer dabei, für besondere Situationen, in denen ihr Körper eine Extra-Dosis braucht, um damit klar zu kommen. Vor der Mathe-Probe nimmt sie schon mal die doppelte Morgendosis. Vor der Fahrradprüfung gibt es drei Milligramm extra. Auch wenn sie sich in den Finger schneidet und das Blut fließt, schluckt sie schnell eine Kapsel. Bei positivem Stress muss sie sich genauso wappnen. Kindergeburtstag, Klassenausflug, der Besuch der Oma, die Übernachtungsparty bei einer Freundin – mit etwas mehr Cortison im Körper lässt sich das besser bestehen. Es hört sich fast ein bisschen wie Doping an. Aber natürlich ist es das nicht.

„Wir ahmen damit nur nach, was die Natur machen würde“, sagt der Kinder-Endokrinologe Achim Wüsthof, der am Hamburger Endokrinologikum Kinder wie Emma betreut und hormonell einstellt. In Stresssituationen – positiven und negativen – schüttet der Körper Cortisol aus (bei körpereigenem Hormon spricht man von Cortisol, bei zugeführtem von Cortison). „Wenn jemand mit Cortisol-Mangel in eine Notsituation gerät und nicht seine Menge bekommt, kann das lebensbedrohlich sein“, erklärt Wüsthof. „Es kann es zu einem deutlichen Blutdruck- und Blutzuckerabfall führen, Fieber, Zittern und Schocksymptomen, die tödlich enden können.“ Für extreme Notfälle – einen Unfall etwa – führen Emma und ihre Eltern immer ein SOS-Zäpfchen mit 100 Milligramm Hydrocortison mit sich. Dazu einen Patientenausweis, der behandelnde Ärzte darauf hinweist, sofort  Cortison zu geben – nicht unbedingt das Erste, was ein Notfallmediziner bei einem Menschen in Schocksituation tun würde. 

Dass Hormonsubstitution gerade bei Kindern immer noch so angst- und mythenbesetzt ist, verwundert Endokrinologe Wüsthof, selbst Vater von fünf Kindern. „Die Hormonbehandlung will nur wiederherstellen, was der liebe Gott ohnehin vorgesehen hatte. Man verändert nicht, sondern man normalisiert den Körper.“ Klar sei Emma heute anders. „Aber sie ist so, wie sie von der Genetik angelegt ist“, ist Wüsthof überzeugt. 

In den vergangen anderthalb Jahren ist Emma Ahrens 16 Zentimeter gewachsen. Mit 1,40 Meter ist sie erstmals seit Jahren nicht mehr die Kleinste in ihrer Klasse. „Ich habe mehr Kraft und bin schneller geworden im Rennen“, sagt sie. Das käme von den Wachstumshormonen. Aber sie sagt auch: „Wenn ich zu viel Corti genommen habe, merke ich: ich werde hippel hippel.“ 

So einfach ist es eben doch nicht, die komplexen Nuancen eines gesunden Hormonhaushalts nachzuahmen. Bei der Dosierung müsse man sich, beschreibt es Wüsthof, „feinsinnig herantasten und auch auf das Naturell des Patienten abstimmen. Einen Leistungsportler wird man anders einstellen als einen Schachspieler.“ Natürlich gibt es Richtwerte. L-Tyroxin, Somatropin und ADH bemessen sich nach dem Körpergewicht. Cortison wird nach der Körperoberfläche bemessen. Man gibt 10 – 12 Milligramm pro Quadratmeter Körperoberfläche. Diese berechnet sich in Gewicht mal Größe in Zentimetern geteilt durch 3600 und davon die Wurzel. Emma hat danach 1,08 Quadratmeter Körperoberfläche, ihre Tagesdosis könnte danach bei 10-12 Milligramm liegen. Meist nimmt sie weniger. 

Zu hoch dosiert, kann Cortison zu starkem Übergewicht, Muskelabbau und Knochenentkalkung führen. Viele der Kinder, die wegen Hypophysen-Insuffizient Cortison einnehmen müssen, sind stark übergewichtig. Emma ist nach wie vor sehr schlank.

Die Dosierung, sagen ihre Eltern, sei zuhause permanent ein Thema. Als überzeugte Anwenderin der Homöopathie habe sie erst einmal „den Schalter umlegen und verstehen müssen, dass Emmas Körper diese Hormone braucht“, räumt Bettina Ahrens ein. Anfangs habe sie instinktiv immer versucht, möglichst wenig Hormone zu geben. Heute sei sie da lockerer. „Wir dosieren oft intuitiv nach der jeweiligen Situation.“ 

Vielleicht noch eine „Mini“ nehmen, weil sie heute so viel Durst hat? Eine „Corti“, weil die Stirn so heiß ist oder eine Flugreise ansteht? Einmal hatte Emma auf Reisen eine wohl durch Hormonabfall bedingte Krise. Sie klagte erst über Kopfschmerzen, Übelkeit, dann sackten Kreislauf und Laune ab. Anzeichen eines akuten Cortisolmangels. Emma schrie, sie könne nicht mehr, wurde panisch, war kaum zu beruhigen. Die Cortisonkapsel half dann – vielleicht auch Bedrohliches zu vermeiden, wer weiß das schon. „Man will das nicht drauf ankommen lassen“, sagt Vater Holger. Trotzdem sei das nicht „wie ein Radio, wo man an den Knöpfen dreht, damit der Empfang wieder klar ist.“ Natürlich kann man nicht immer mit der Pille anrücken, manchmal muss es auch eine klare Ansage sein. Oft, wenn Emma aufbraust und ihren Vater anbrüllt, brülle der zurück, erzählt Emma. „Der Papa ist da streng.“

Emmas Geschwulst ist wieder nachgewachsen. Das passiert ab und an bei Kraniopharyngeom-Patienten. Anderthalb Jahre nach der ersten OP wurde sie erneut operiert, drei Monate später war der Tumor wieder da. Bei der dritten OP wurde ein Katheter gelegt, der die Flüssigkeit aus dem zystischen Tumor in das Hirnwasser ableitet. Seither hat sich die Geschwulst nicht mehr vergrößert. Verkleinert aber auch nicht. „Wir leben von MRT zu MRT“, sagt die Mutter. Alle drei bis vier Monate muss Emma in die Röhre, alle drei Monate geht sie zur Blutabnahme und Hormonkontrolle zum Endokrinologen. 

Irgendwann in den nächsten zwei, drei Jahren wird wohl der Tag kommen, an dem Emmas Eltern und ihr Endokrinologe in Absprache mit ihr beschließen, dass es nun an der Zeit ist, in die Pubertät zu starten und die weiblichen Geschlechtshormone zuzuführen. „Uns ist wichtig, dass er Wunsch von den Jugendlichen ausgeht“, sagt Kinder-Endokrinologe Wüsthof. „Wir schauen, wann die Eltern und Geschwister in die Pubertät gekommen sind. Wichtig ist, dass man niemandem etwas überstülpt.“  

Natürlich wird auch Emma sich dadurch verändern – wie alle Kinder in der Pubertät. Natürlich sind daran auch die Hormone beteiligt, wie bei jedem Pubertierenden. „Aber zu meinen, dass nur die Hormone den Menschen verändern, ist Quatsch“, beharrt Wüsthof und erzählt, dass er vor einigen Jahren als Gutachter in einem Mordprozess gegen einen jungen Mann auftreten musste, der wegen Kleinwüchsigkeit mit Wachstumshormonen behandelt worden war. Die Verteidigung plädierte, der Mann sei wegen der Hormongaben zum Mörder geworden. Sei praktisch nicht mehr er selbst gewesen. „Das ist schlichtweg Blödsinn“, sagt Wüsthof. Davon hat der Hormonexperte auch den Richter überzeugen können. Der Täter sitzt heute ein. 

„Hormone müssen oft als Erklärungsmuster dafür herhalten, dass etwas nicht so läuft wie es laufen soll“, beklagt Wüsthof. Dabei sei just das Gegenteil der Fall: „Wenn jemand nicht die richtigen Hormone bekommt, dann kann er nicht so sein, wie er von Natur aus sein müsste.“

Emma sitzt vor dem Hamsterkäfig in ihrem Zimmer. Manchmal, wenn sie sich schlapp fühlt oder auch zu aufgedreht, schaut sie dem kleinen Zwerghamster zu, wie er in seinem Hamsterrad auf der Stelle rennt. Oder streichelt ihm über das angoraweiche Fell. Das hilft oft mehr als eine Kapsel Corti. Ob die Hormone sie wohl verändert haben? Emma blickt auf, denkt einen Moment nach und sagt dann bestimmt: „Ich glaube, ich bin jetzt so, wie ich eigentlich bin.“ Ein schöner Satz ist das.