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Reportage

Die Heimkehrer

Lange Jahre litt Kalabrien unter dem Wegzug seiner Bewohner. Mit der wachsenden Schar von Reisenden kehren nun auch die ersten Auswanderer wieder zurück, um in ihrem Land an der Zukunft mitzuwirken. Wir haben einige getroffen.  

 

 

Luftschlösser bauen sich so: Als kleiner Junge blickt Antonio Fittipaldi, Spross einer kalabrischen Arbeiterfamilie, oft vom Strand hinauf zum Kastell, das über der Bucht von Praia a Mare thront. Eines Tages will er dort oben leben, in diesen fast 1000 Jahre alten Mauern. Gut vierzig Jahre später steht Antonio Fittipaldi auf der Terrasse des mittelalterlichen Castello di Praia und blickt hinunter auf das glitzernde Meer. Ein lauer Wind tanzt um die Türme. Von unten dringt das Atmen der Brandung – ein Ort von entrückter Schönheit. „Für mich erfüllt sich ein Lebenstraum “, sagt Antonio, 52. „Es wie ein Märchen.“ Dazu passt, dass er in der Kastellkulisse märchenhafte Hochzeiten inszeniert. Die Trauwütigen reisen bis aus Japan und den USA an. Antonio kümmert sich um alles. Dokumente, Blumenschmuck, Buffet, Musik, auf Wunsch auch 700 flackernde Kerzen. Vor sechs Jahren ist der gelernte Hotelkaufmann in seine kalabrische Heimat zurückgekehrt. Der Familie und seiner Mutter wegen.

Als er ging, mit 25, haben sie ihn mit einem Corso zum Bahnhof begleitet. Die ganze Familie, Eltern, acht Geschwister, Tanten und Onkel, fünf Autos voll. Ein großes Geheule war das. Antonio wischt sich kurz über die Augen, er ist ein Feinfühlender. Und vielleicht deshalb so ein begnadeter Gastgeber. „Ich habe viel gelernt in der Fremde“, sagt er. „Ich bringe reiches Kulturgepäck mit.“ Im Sommer sind die sechs herrschaftlichen Zimmer der vormaligen Normannen-Festung stets ausgebucht. Der Logenblick ist auch einfach kaum zu toppen. Egal ob beim Frühstück oder beim Ja-Sagen. 

Kalabrien erwacht aus seinem Dämmerschlaf. Gut neun Millionen Besucher reisten allein 2017 in die südlichste Festlandregion Italiens – ein neuer Rekord. Mit den Urlaubern kehren auch immer mehr Einheimische zurück, um in ihrer Heimat etwas Neues aufzubauen. Antonio ist einer von ihnen. In der Kastellküche mit ihrer rußschwarzen Feuerstelle presst er die erntefrischen Pampelmusen aus seinem Garten. Für das Frühstück hat er eine Torta gebacken, abends kocht er für die Gäste. Er ist ein Alles-Antiono. Organisiert Rafting-Touren durch die Schluchten des Gebirgsflusses Lao und Schippertörns in die nahegelegenen Grotten oder Ausflüge in die benachbarten mittelalterlichen Dörfer. „Die meisten ahnen nicht, wie schön und vielfältig unser Land ist“, sagt er.

Über Jahrzehnte hinweg galt die italienische Stiefelspitze auch unter ihren Bewohnern eher als das Land, dem man besser den Rücken kehrt. Und der Trend ist nicht gestoppt. Gerade die jungen, gut Ausgebildeten ziehen in Scharen davon, weil es daheim keine Jobs für sie gibt. Mehr als anderthalb Millionen Kalabresen haben seit den 1950er Jahren ihre Heimat verlassen. Ganze Gemeinden wurden so entvölkert. Morano Calabrese im Norden Kalabriens ist eine dieser Geisterstädte. Vor 70 Jahren lebten hier gut 18.000 Menschen. Heute sind es nur noch 4500. „Aber einige kommen wieder zurück“, sagt Nicola Bloise, Ingenieur aus Morano, der nach einer erfolgreichen Karriere in Florenz in sein Dorf zurückgekommen ist, um seinen Geburtsort vor dem Verfall zu retten. Wie eine verschachtelte Pyramide umklammert der alte Dorfkern den Bergkegel von Morano, gekrönt von einer Burgruine. 20 Häuser haben Bloise und seine Mitstreiter in den letzten 15 Jahren aufgekauft, zum Teil auch geschenkt bekommen und wieder nutzbar gemacht – als Herberge, Museum, Shop oder Kulturcafé. Alle Zimmer sind mit antikem Mobiliar aus den Ursprungswohnungen bestückt. Die Fenster und Türen aus Kastanienholz restauriert der Schreiner aus dem Dorf, der auf diese Weise sein Auskommen behält und weiter im Dorf wohnen kann. Auch andere Handwerker sind beteiligt. Es ist ein Kraftakt. Aber nun kommen die Gäste, die das zu schätzen wissen. Junge Menschen, Kreative, Slow Touristen. Gut 10.000 waren es im letzten Jahr. „Es ändert sich etwas“, sagt Bloise. „Das hier ist eine Kulturrevolution.“ 

Wir stehen auf vor einer kleinen Bude, die früher mal ein Hühnerstall war. Jetzt ist es eine Bar. Von irgendwo dringt Jazz-Musik. Nicola, 61, selbst Hobby-Bassist, lässt sie aus Lautsprechern durch die Gassen wehen. Es soll die Leere übertönen. Aber irgendwie unterstreicht es sie auch. Nur ein Drittel der Häuser ist noch von Einheimischen bewohnt. Dennoch habe sich der Wegzug stabilisiert, sagt Nicola. Und der eine oder andere findet zurück. Rosamaria zum Beispiel, eine Mittdreißigerin mit einem Wust von schwarzen Locken um das lachende Gesicht. Sie hat viele Jahre als Erzieherin in Norditalien gearbeitet. Seit zwei Jahren lebt sie wieder in Morano, im neuen Stadtteil weiter unten im Tal. „Ich hatte so Heimweh“, sagt sie. Nun führt sie Schulklassen durch das Bergdorf und erzählt vom harten Leben der Vorfahren, deren Nachkommen heute oft auf Spurensuche bis aus Brasilien anreisen. Dass aus manchem obdachlosen Gemäuer die Bäume in den Himmel wachsen, stört sie nicht. „Hier ist es nicht so hektisch wie in der Großstadt“, sagt sie. Wohl wahr: Alles ist verlangsamt an diesem aus der Zeit gefallenen Ort. Man kann gar nicht anders, als zu entschleunigen. Vielleicht sich auch zu verlieben, so wie Rosamaria. Sie hat hier ihren Mann fürs Leben gefunden. 

Durch eine urwüchsige Berglandschaft fahren wir weiter Richtung Süden. Dichte Wälder wechseln mit Felsformationen, ein bisschen Kanadafeeling. Ganz unvermittelt poppt hinter einem Bergtunnel dann wieder das Meer auf. Kalabrien hat vier große Gebirgsmassive und 800 Küstenkilometer, darunter viele von unentdeckter Schönheit. In Pizzo, einem noch immer etwas verschlafen wirkenden Fischerort unterhalb von Lamezia Terme, halten wir auf ein Tartufo-Eis in der Gelateria Belvedere. Dort wurde, vor gut hundert Jahren, die inzwischen weltberühmte Eiskugel mit weichem Schokokern von seinem Großvater erfunden, erzählt uns Besitzer Domenico. Inzwischen schützt ein lokales Tartufo-Konsortium das Rezept und kümmert sich um das Marketing. Der Ort hat sogar ein Tartufo-Festival ins Leben gerufen, um die Genussbombe zu vermarkten. Das neue Selbstbewusstsein des Südens.  „Wir Kalabresen“, sagt Domenico, „müssen uns nicht verstecken. Es gibt so vieles, auf das wir stolz sein können.“ 

Auf die Köstlichkeiten zum Beispiel, die Francesca Tramontana und Francesco Praticò vor ihrer Weinbar Casa Vela in Scilla auftischen. Pecorino mit Bergamotte-Honig, Ricotta mit Zwiebelmarmelade und die `nduja, die scharfe Mettwurst. Dazu ein feiner Greco Bianco, eine kalabrische Rebsorte, die schon von den Römern entlang des Ionischen Meeres angebaut wurde. Vom Tisch in der Gasse blickt man zwischen Häuserlücken direkt auf den schmalen Felsstrand, den das weichende Licht in unwirkliches Rosa taucht. „Costa Viola“ heißt die Küste nicht von ungefähr. Viele kommen des Lichts wegen und weil Scilla mit seinen schmucken Fischerhäuschen wie einer Italo-Romanze aus den 50ern entsprungen scheint. 

Francesca, 37, ist vor acht Jahren zurückgekehrt. „Ich wollte meine Wurzeln wieder spüren“, sagt sie. Zehn Jahre lebte die studierte Psychologin in Rom, Jerusalem und Sarajewo und arbeitete mit traumatisierten Kindern. Dann begann das, was sie ihr „zweites Leben“ nennt. Sie machte sich auf den Heimweg und arbeitete im Weingut der Familie, die seit vier Generationen an den halsbrecherischen Steilhängen rund um Scilla die berühmten „Vini estremi“ anbaut. Auf einer Messe für lokale Produkte traf sie Francesco, 40. Seit sechs Jahren betreibt das Ehepaar nun die Weinbar und ein B & B im Haus nebenan. Loungemusik wabert durch die kleine Bar, in den Regalen stehen regionale Bio-Delikatessen. Bergamotte-Bionade, Olivenöle und ausgesuchte Wein, viele davon aus familieneigener Produktion.  „Diese Kultur zu vermitteln, ist unsere Mission“, sagt Francesco, der vor knapp zehn Jahren eine Organisation gründete, um das kalabrische Erbe zu vermarkten. Im Geisterdorf Pentidattilo, einem vormaligen Hirtenort gut eine Fahrstunde entfernt, haben er und Francesca vier historische Gebäude zu Ferienhäusern umfunktioniert. Es ist nur ein Anfang. Irgendwann wollen sie auf dem Hügel Santa Trada hoch über Scilla ein Agriturismo zwischen ihren Olivenbäumen erbauen. Von hier oben hat man einen sensationellen Blick auf Sizilien und die Straße von Messina. Im Moment steht dort nur die Ruine einer ehemaligen Soldatenunterkunft. Es ist noch ein langer Weg. Aber das macht nichts. Alle Träume haben mal als Luftschloss begonnen.