Im November 2015 wurde in der ehemaligen Militärdiktatur Myanmar erstmals demokratisch gewählt. Trotz der neuen Freiheiten verlassen weiterhin zahllose junge Mädchen ihre Familien, um als buddhistische Nonnen zu leben. Es bleibt vorerst ihre einzige Chance auf Bildung und Unabhängigkeit.
Ma Yu Mar Lar war vier Jahre alt, als sie das erste Mal auf der Straße eine Gruppe rosafarben gekleideter Frauen wahrnahm. Sie trugen alle eine Glatze. „Von diesem Moment an wollte ich zu ihnen gehören", sagt sie. So anmutig wirkten sie, so friedlich. Zu Hause fragte sie ihre Eltern um Erlaubnis. Ma Yu Mar Lar kommt aus einer Gegend, in der die Häuser keine Türen und Fenster haben. Kühe gelten als Familienmitglied, weil sie Geld einbringen. Ihr Zuhause liegt zwei Autostunden von Yangon entfernt, das auch Rangun genannt wird und die größte Stadt Myanmars ist. Das letzte Stück führt zu Fuß über sumpfige Landwege.
Auf engstem Raum leben hier die zwei Brüder von Ma Yu Mar Lar und ihre kranken, bald neunzig Jahre alten Großeltern. Dazu zwei Schwestern des Vaters, eine ist verheiratet und hat zwei Kinder. An dem Esstisch haben nicht alle gleichzeitig Platz. Ma Yu Mar Lar ist mittlerweile zwölf Jahre alt und nur noch selten zu Besuch, höchstens einmal im Jahr. Auf der Fahrt zu ihren Eltern sagt sie, dass sie ihr Zuhause vermisse, aber als sie dann dort ist, spricht sie kaum. Auch das gehört zu ihrem neuen Wesen: sich beherrschen zu können, keine Gefühle zu zeigen. Obwohl sie ihren Vater das letzte Mal vor zweieinhalb Jahren gesehen hat. Er arbeitet an der Grenze zu Thailand. Die Mutter hat die Familie vor Jahren verlassen. Ma Yu Mar Lars offizieller Vormund ist ihre ledige Tante. Die sagt: „Das Kloster ist das Beste, was einem Mädchen wie ihr passieren konnte."
Als Ma Yu Mar Lar ihr Elternhaus verließ, war sie sechs Jahre alt. Ihrer Familie kam der Auszug ihrer Tochter gelegen, so hatte sie ein Kind weniger zu versorgen. Es ist keine Seltenheit in Myanmar, dass Mädchen aus ärmeren Gegenden ins Kloster gehen. Oft kommen sie aus den entlegensten Tälern des Landes, dort, wo sich Rebellen und Regierung bekämpfen oder es keine Arbeit gibt und wenig Zukunft. Selten ist eine junge Frau aus der Stadt darunter. Nonne zu werden, das bedeutet in Myanmar auch: eine kostenlose Bildung zu erhalten - und Unabhängigkeit.
Ma Yu Mar Lar war froh, an dem Ort angekommen zu sein, den sie sich ersehnt hatte. Sie erinnert sich an die Farbe Rosa, die überall zu sein schien, rosa wie die Gruppe der Frauen, die sie als Vierjährige gesehen hatte. Mittlerweile ist sie eine von ihnen.
Alle drei Tage muss sie ihren Kopf mit Seife einschäumen, die Rasierklinge in der rechten Hand, Stück für Stück die schwarzen Haarstoppel abschaben, bis keiner mehr übrig ist, nur kahle Haut. Ma Yu Mar Lar führt ein Leben im Dienste Buddhas, im Kloster, in der Abgeschiedenheit. Sie ist Nonne geworden. „Alles Körperliche ist vergänglich", sagt sie bestimmt. Und: „Haare lenken vom Meditieren ab."
Ein Wintertag im Dezember. Winter, das bedeutet in Yangon 25 Grad. Es ist Dienstag, aber hier im Kloster ist das nicht wichtig. Im Garten wachsen Mangobäume, es riecht nach verbranntem Holz, auf Wäscheleinen hängen rosa Tücher und ockerfarbene Schals - die Kleidung der Nonnen. „Thu Kha Kar Mi" nennt sich das Kloster, in dem Ma Yu Mar Lar nun schon ihr halbes Leben lang wohnt. Der Name bedeutet: „Wo die Leute mit innerem Reichtum wohnen". 200 Nonnen sind es, die älteste ist 67, die jüngste sechs Jahre alt. 200 von rund 50 000 im ganzen Land. Mönche gibt es zehnmal so viele.
Mingaladon im Norden der Stadt ist eines der größten Viertel Yangons. An manchen Stellen, wie dort, wo das Kloster steht, hat es einen ländlichen Charakter, ist umgeben von Ackerland und Holzhütten. An anderen zeigt es sich wuselig. Myanmars größter Busbahnhof findet sich hier und der internationale Flughafen. Kein Stadtteil Yangons ist so an die Außenwelt angebunden wie der, in dem die Nonnen leben. Nur interessiert sie das nicht. Während sich das Land zunehmend öffnet, nach den ersten freien Wahlen im November 2015 seinen Weg in die Demokratie sucht, gehen viele junge Frauen einen anderen, er führt nach innen.
Vier Uhr früh. Alles um sie herum schläft, aber die Nonnen sind schon wach. Aufgereiht wie Schachfiguren sitzen sie auf dem Boden des Gebetsraums. Vor ihnen wacht eine vier Meter hohe, goldene Buddhastatue. Wenn sie beten, klingt es, als würden sie singen. Aber es ist kein Gesang. Musik ist für Nonnen verboten. In den hinteren Reihen sitzen die Kleinsten. Mit gefalteten Händen nicken sie immer wieder ein, das Gebetsbüchlein vor sich liegend. Erst wenige Monate sind sie hier und daher fällt das frühe Aufstehen noch schwer. Ganz vorne die Ältesten. Eine Nonne geht mit einem Lineal durch die Reihen. Wer zerstreut wirkt, kriegt einen leichten Klaps auf den kahlen Hinterkopf.
Dazwischen hockt Ma Yu Mar Lar, ihre schwarzen Augen sind geschlossen, die vollen Lippen regungslos. Von den anderen Mädchen wird sie „großer Kopf" genannt. An ihrer hervorstehenden Stirn und der markanten Kopfform erkennt man sie schon von Weitem. Und an ihrem Gang: Sie schleift beim Gehen die Füße hinterher, hat mit ihren jungen Jahren einen leichten Buckel. Ihre Haut ist hell für eine Burmesin und die Stimme tief für eine Zwölfjährige. Ma Yu Mar Lar gilt unter den Mädchen als nachdenklich und introvertiert, so wie die meisten hier im Kloster. „Sie lächelt viel und sie ist artig", sagen die älteren Nonnen. Fremden nickt sie höflich zu, wenn sie ihr einen Blick zuwerfen.
Agga Nyari Ni hat den Weg der Religion nicht aus Armutsgründen gewählt. 54 Jahre ist sie alt, ihre Haut weich, fast faltenfrei und ihr Blick nach Jahren der täglichen Meditation ausgeruht. Die Gründerin des Klosters ist die siebte von zehn Töchtern einer mittelständischen Familie. Nonne zu werden, in einer leitenden Position, sei ihre Berufung, sagt sie. Agga Nyari Ni ist eine respektierte Frau, deren Smartphone häufig klingelt. 2001 hat sie das Kloster aus Spendengeldern erbauen lassen, mit einem Gebäude und fünfzehn Nonnen angefangen. Heute stehen zehn Häuser dort, wo vorher Wald war. Manche sind einfache Holzhütten, andere wurden aus Stein oder Ziegel gebaut.
Ein paar Minuten sandiger Fußweg entfernt liegt die 2007 errichtete Schule. Die Nonnen lernen hier, bis sie fünfzehn Jahre alt sind. Später bringt sie ein Schulbus in das Gymnasium, manche schließen ein Fernstudium an der Universität an. Auch Ma Yu Mar Lar besucht die nebenan liegende Schule. Sie geht in die sechste Klasse. Englisch ist ihr Lieblingsfach. Neben dem frühmorgendlichen buddhistischen Unterricht im Kloster erhält sie von elf bis siebzehn Uhr und von neunzehn bis 22 Uhr eine, wie die Nonnen es bezeichnen, „normale" Ausbildung: Mathematik, Geschichte und Sprachunterricht.
Das Klassenzimmer, in dem Ma Yu Mar Lar sitzt, ist hellblau gestrichen, die Luft ist stickig, obwohl die Fenster offen stehen. Die Englischlehrerin, eine rundliche Frau mit Flechtfrisur, fragt Vokabeln ab. Die Schülerinnen schreien sie im Chor heraus, eine versucht dabei die andere zu übertönen. Auf der linken Seite sitzen die Nonnen, Ma Yu Mar Lar in der vierten Reihe. Rechts die „weltlichen" Kinder, die ebenfalls die Schule besuchen. Sie tragen weiß-grüne Uniformen. Ihre Haare sind offen. Die Gesichter sind mit Mustern bemalt, mit dem in Myanmar typischen Tanaka, eine aus einer Rinde gewonnene Paste, die als Sonnenschutz und Make-up dient. Nonnen ist das nicht gestattet. Sie dürfen sich nicht hübscher machen. Sie verwenden nicht einmal Cremes.
Über ihr früheres Leben erzählt Ma Yu Mar Lar nicht viel. Jede Antwort überlegt sie sich lange, besonders die, die ihr Empfinden betreffen. Drei Minuten sagt sie nichts, und dann, beinahe ausdruckslos und stets kontrolliert: „Vieles findet im Inneren statt." Und es stimmt: Eine Nonne ärgert sich nicht, sie freut sich auch kaum. Wie sie selbst das Kloster nur selten verlässt, so dringen auch ihre Gefühle nicht nach draußen.
Im Leben der kleinen Ma Yu Mar Lar gibt es wenig Freizeit, ihr Tag ist streng getaktet. Wenn sie nicht betet oder lernt, ist sie im Kloster eingespannt, putzt, gießt die Blumen, hilft beim Kochen. Wie jede Nonne besitzt sie drei Gewänder bestehend aus fünf Schichten. Der unterste Rock ist orangegelb, dazu trägt sie ein langärmeliges rosa Leibchen. Darüber vier verschiedene rosa Tuniken und einen Schal. Täglich wäscht sie eines ihrer Gewänder, auch die Kleinsten sind selbst dafür verantwortlich. Als Nonne legen sie ihr Kindsein ab - so wie sie die zwei oberen Tuniken ablegen, wenn sie um 23 Uhr ins Bett gehen.
Kurz vorm Schlafengehen albern die Mädchen noch einmal herum, einer der wenigen ausgelassenen Momente und einer der wenigen, in dem sie so alt wirken, wie sie sind. Ma Yu Mar Lar blättert in ihrem wichtigsten Besitz, einem buddhistischen Buch, während eine andere Nonne sie abzulenken versucht. Die Sechs- bis Fünfzehnjährigen teilen sich ein Zimmer, zu 88 schlafen sie darin. Drei passen in ein 1,40 Meter breites Bett, ohne Matratze. Ma Yu Mar Lar liegt mit zwei weiteren Mädchen auf einem Holzgestell. Der einzige Komfort ist ein Polster und eine Decke. Ihre Bettnachbarin hat ein Buch auf dem Nachtkästchen, „The Perfect World" steht darauf, darunter das Bild einer Braut.
Bevor das Licht ausgeht, schaut das Klosteroberhaupt nach dem Rechten. Agga Nyari Nis strenger Blick liegt über den Mädchen. Einer Sechsjährigen, die sich anfangs nachts noch in den Schlaf weinte, streicht sie über die Wange. „Die Mädchen sind wie Töchter für mich", wird sie später sagen. Das Kloster gilt als der sicherste Ort für ein Mädchen. Das Leben als Nonne, es schützt vor Zwangsheirat und vor Missbrauch, eine Realität in vielen Teilen Myanmars. Es bewahrt auch vor einem Leben als Ehefrau, das viele Pflichten mit sich bringt und wenig Freiheit. „In Myanmar müssen Frauen für ihre Ehemänner alles machen", sagt die Klosterleiterin. Kinder kriegen, kochen, waschen - unmöglich, dabei ein unabhängiges Leben zu führen. „Ich bin froh, dass mir das erspart geblieben ist", sagt sie.
Darum möchte Agga Nyari Ni so vielen Mädchen wie möglich zur Selbstbestimmung verhelfen. Sie kann nicht mehr zählen, wie viele sie zur Nonne gemacht hat. So viele seien es gewesen. Immer läuft der Prozess gleich ab. Klopft ein Mädchen an die Tür des Klosters, hat sie drei Tage lang Zeit, um die Entscheidung zu überdenken, ihre Gedanken zu ordnen. Währenddessen nimmt sie am Klosterleben teil, trägt ein weißgraues Gewand. „Sie muss wissen, dass es kein Ich gibt, dass alles endlich ist", sagt Agga Nyari Ni. Bleibt sie bei der Entscheidung, folgt der für viele schwerste Teil: Sie muss sich von ihren Haaren verabschieden. Den ersten Schnitt macht immer Agga Nyari Ni. Dann legt die neu gewordene Nonne ihren weltlichen Namen ab und kriegt einen geistlichen.
Aufgereiht wie eine Perlenkette stehen die Mädchen am nächsten Tag um 10.30 Uhr vor dem Essensraum. Zwischen den gefalteten Händen halten sie silberne Löffel. Auf dem Boden werden sie bald darauf aus silbernen Schüsselchen Reis essen. Chilisauce steht auf dem Tisch und etwas Kürbis. Mehr gibt es nicht. Es wird das letzte Essen bis morgen früh sein. Neunzehn Stunden Nüchternheit. Einer Nonne ist es nicht erlaubt, nach Mittag zu essen. Sie darf nur noch Flüssiges konsumieren: ungesüßten Tee oder Wasser, das in Kanistern in den Zimmern steht. „Man gewöhnt sich daran", sagt Ma Yu Mar Lar. Das Essen für die vielen Mädchen finanziert das Kloster hauptsächlich durch Spenden. Sechsmal im Monat gehen die Nonnen Almosen sammeln. Die Klosterschule bleibt an diesen Tagen geschlossen.
Werden die Nonnen gefragt, was sie von der Welt draußen vermissen, können sie kaum antworten. Vielmehr gewinnen sie drinnen dazu, sagen sie: Bildung, Unabhängigkeit, inneren Frieden. „Dafür haben wir die Liebe unserer Familie aufgegeben", sagt eine. Und eine eigene werden sie nicht gründen. Dabei könnten sie jederzeit gehen, das Kloster verlassen, wieder „ein menschliches Wesen" werden, wie es die Nonnen selbst nennen. Niemand zwingt sie, Geistliche zu bleiben. Von den jungen Nonnen entscheidet sich nach abgeschlossener Schulbildung rund die Hälfte für solch ein weltliches Leben. Doch auch wenn sie keine Nonnen bleiben, agieren sie durch ihre Ausbildung wie religiöse Botschafterinnen. Sie bringen den buddhistischen Glauben auch in entlegene Gegenden, wenn sie nach Hause zurückkehren.
Noch kann sich Ma Yu Mar Lar nicht vorstellen, ihren alten Namen wieder anzunehmen. Nach sechs Jahren im Kloster erinnert sie sich kaum noch an ihn. „Ich möchte Nonne bleiben", sagt sie heute. Aber wie ihre Zukunft aussehen wird, entscheidet sie nicht selbst, sondern ihr Vormund, die Tante. „Von Töchtern wird in Myanmar immer noch erwartet, sich im Erwachsenenalter um die Eltern zu kümmern", sagt die Tante, während sie in ihrer Holzhütte das Essen zubereitet und ihr ein Huhn zwischen die Füße läuft. Als Nonne, ohne finanzielle Mittel und im Kloster lebend, ist das unmöglich.
Eine Zeit lang war auch Ma Yu Mar Lars Tante Geistliche. „Es ist ein weniger beschwerliches Leben als das unsere", sagt sie. Sie musste zurück, als ihre Eltern erkrankten. Für ihre Nichte wünscht sie sich dennoch, dass sie im Kloster bleiben kann. Viele in Myanmar sehen es als gutes Karma, eine Nonne in der Familie zu haben. Sie gelten als Beschützerinnen und sind geachtet. Aber im Vergleich zu den Mönchen sind sie untergeordnet. Mönche verehrt man in Myanmar beinahe wie Heilige. Die weiblichen buddhistischen Geistlichen, sie gelten als bescheidener und zurückgezogener als ihre männlichen Kollegen.
Dennoch ist der Beruf der Nonne das Beste, was eine burmesische Frau in diesem Leben erreichen kann. Noch besser sei es, so Agga Nyari Ni, in dieser Position so vielen Menschen zu helfen, wie sie es tue. „Buddha sagt, wer Gutes tut, wird im nächsten Leben dafür belohnt werden." Mit anderen Worten: Er wird als etwas Besseres wiedergeboren werden. Ma Yu Mar Lar hört aufmerksam zu und es wirkt, als ob sie sich die Formel einpräge, die Glück versprechen soll. Vielleicht hegt in dem Moment auch sie den Wunsch, den viele Nonnen in sich tragen sollen, wenngleich ihn nur wenige aussprechen: reinkarniert zu werden als Mann.
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