Junge Italiener haben die Nase voll vom Gejammer ihrer Eltern. Sie wollen sich eine Zukunft aufbauen. Ausgerechnet in Neapel.
Seit er in seine Heimatstadt Neapel zurückgekehrt ist, denkt Vincenzo Marino, 24, manchmal, dass es mehr Mut braucht zu bleiben als zu gehen. Vier Jahre hat er in London gelebt, ein Jahr in Australien. Das erste Mal in seinem Leben war er im Ausland fest angestellt. Wenn er krank wurde, hat er sein Gehalt weiterhin bekommen. Er hat fast fünfmal so viel verdient wie zuvor in Neapel, wie jeder, den er dort kennt, und zum ersten Mal konnte er ein bisschen sparen.
Seit fünf Monaten wohnt Vincenzo wieder zu Hause, er teilt sich ein Zimmer mit der großen Schwester und dem kleinen Bruder. Er jobbt in einem Pub, wenn man ihn braucht, wie früher schwarz, wie früher für lächerlich wenig Geld. Man könnte seine Situation perspektivlos nennen. Vincenzo Marino tut das nicht. Er hat nicht vor, wieder zu gehen, er meint es diesmal ernst mit dem Bleiben. Den Namen seiner Stadt trägt er auf dem rechten Oberarm tätowiert.
In Neapel konzentriert sich der Verfall, nirgendwo in Italien ist der Staat so abwesend wie hier. Neapels Superlative: dichtest besiedelte Stadt Europas, größter Abladeplatz illegalen Giftmülls, eine Millionenstadt, zersetzt von mafiösen Strukturen. Neapel ist das Symbol des Stillstands in einem scheinbar unreformierbaren Land. Im August 2014 war laut Nationalem Institut für Statistik beinahe jeder zweite italienische Jugendliche arbeitslos - im Süden liegt die Zahl noch höher. 2013 verließen knapp 95.000 Italiener offiziell das Land. Die meisten Auswanderer waren zwischen 18 und 34 Jahre alt. Daher klingt Vincenzos Entscheidung ungewöhnlich, antizyklisch. Und doch ist sie es nicht, denn unter den jungen Italienern scheint ein Umdenken stattzufinden. Warum zurückkehren in eine Stadt wie Neapel? Um sich eine Zukunft aufzubauen. "Oder um es zumindest zu probieren", sagt Vincenzo Marino. Weil er hier zu Hause ist.
Viele junge Neapolitaner kämpfen wieder für ihre Stadt. Sie kommen zurück oder weigern sich, überhaupt zu gehen. Die Einstellung "Du entscheidest nichts", die lange die Gedanken der Neapolitaner bestimmt hat, bricht auf - in einer fatalistischen Gesellschaft, die Heilige um Lottonummern bittet und gleichzeitig um die Genesung der Großmutter, ist das ein großer Wandel. Die Jungen denken anders als die Alten. Sie wissen: Ihr Schicksal liegt in ihrer Hand.
Der Norden Neapels. In Casavatore, wo Vincenzo Marino groß geworden ist, wurde mit allem gegeizt außer mit Zement. Sechs- bis zehnstöckige Hochhäuser reihen sich aneinander. Casavatore, sagt er, sei die "totale Vernachlässigung", es gebe keine Infrastruktur, kein kulturelles Angebot, oft nicht mal eine Bar.
Seit Vincenzo ein Kind war, hat er die Parks in seiner Stadt nur durch einen Gitterzaun gesehen, weil sie schon immer geschlossen waren, zu heruntergekommen, um darin zu spielen. Die Schaukeln hat er nie benutzt, weil sie nur aus Gerüsten bestanden und die Sitze fehlten. Fußball hat er mit seinen Freunden während der Mittagspause der Postangestellten gespielt, als auf deren Parkplatz keine Autos standen. Das war direkt gegenüber des Schwimmbades, bis zu dessen Eröffnung er die Tage gezählt, aber dessen Becken er nie mit Wasser gefüllt gesehen hat. Als die Erwachsenen die letzten Stahlstangen abtransportierten, mitnahmen, was für ein paar Lire zu verscherbeln war, hat auch er es begriffen. Nie wird er dort schwimmen.
Die Wut, die er seit damals in sich trägt, hat ihn veranlasst zu gehen. Und sie war es auch, die ihn hat zurückkommen lassen. Weil er sie umwandeln möchte in etwas Konstruktives.
Wieder in Neapel, hat er einen Freund aus Kindheitstagen getroffen. Angelo Vozzella, 27, dessen Bruder in England lebt, dessen Schwester weggezogen ist. Der aber nicht darüber nachdenkt, zu gehen, weil er hier gebraucht wird. Er sagt: "Wenn du vor etwas fliehst, riskierst du, dass dieses Etwas nach deiner Abwesenheit deinen Platz einnimmt." Angelo hat mit Freunden die Bewegung "Verschaff dir Raum" gegründet. Rund 30 junge Menschen gehören ihr an. Sie warten nicht mehr darauf, dass die Behörden aktiv werden. Sie sind es selbst geworden, haben Unterschriften gesammelt, um Parks zu eröffnen und leer stehende Gebäude zu benützen.
Angelo und Vincenzo stehen in einer früheren Polizeistation, denken sich den Schimmel weg, der sich in die Wände frisst, und stellen sich stattdessen die Zukunft vor. "Hier könnte die Küche hinkommen", sagt Angelo. Vincenzo nickt. Gemeinschaftsessen möchten sie kochen und Fortbildungen anbieten, im eigenen Garten Gemüse anbauen und Möbel recyceln, selbstbestimmt leben. Die Zimmer könnten als Unterkünfte für junge Neapolitaner dienen, die nicht mehr zu Hause leben wollen, aber sich eine Miete nicht leisten können. Im Süden versorgen die Eltern ihre Kinder oft noch bis zu deren vierzigstem Lebensjahr, finanzieren sie mit ihren Gehältern und den großelterlichen Pensionen. Gleichzeitig klammert sich diese Generation an ihre Arbeitsplätze, blockiert so den Fortschritt und die Zukunft der Jugend.
Die Neapolitaner erzählen gerne von der Bedeutung, die ihre Stadt einst hatte, manche sagen, sie sei so wichtig gewesen wie London oder Paris. Wenn es je so war, dann ist das lange her, Neapel kriecht heute voran, funktioniert, irgendwie. Vermutlich weil es Leute gibt wie Serena Monti, 27.
2012 hat sie als Erste ihres Jahrgangs das Studium der Biotechnik mit Auszeichnung bestanden, sie hat ein Austauschsemester gemacht und Dutzende Bewerbungen verschickt, ehe sie eine Arbeit fand, die ihren Fähigkeiten entsprach. Seither vertraut sie nur noch auf sich. "Das größte Problem der Neapolitaner sind die Neapolitaner selbst", sagt Serena. Daher sei die einzige Möglichkeit, die Stadt zu ändern, die Denkart ihrer Bewohner zu ändern. Dort anzusetzen, wo es am meisten schmerzt: bei sich selbst.
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