Astrid Möslinger

Journalistin und Texterin , Heidelberg

1 Abo und 1 Abonnent
Artikel

Der grüne Fluss am Rand der Zeit

Die 200 Kilometer lange Tour entlang des Doubs fühlt sich wie eine Reise in die Vergangenheit

Wer auf Europas längstem Radwanderweg unterwegs ist, trifft nicht nur Leute, die sich eine Auszeit nehmen. Entlang des Doubs kann man in die Vergangenheit reisen. 

Die drei Wörter ergeben einen lustigen Satz. „Langsam rollen Sie" - die eigenwillige Übersetzung von „Roulez lentement" - könnte eine Feststellung sein, ist aber als Aufforderung gemeint. Nachdem wir zwei Tage auf einsamen Landstraßen und Uferwegen durch die ostfranzösische Provinz geradelt sind, taucht dieser Hinweis auf einem Verkehrsschild auf. Doch wir sind längst entspannt, mit jedem Meter im Sattel haben wir ein bisschen zurückgeschaltet. Die Idylle erscheint fast surreal: über uns der gletscherblaue Himmel. Neben uns der Doubs, der gemütlich durchs Tal mäandert - darauf Inseln aus Seerosen. Am Ufer Kühe, die durch den Fluss waten. Und wenn es gluckst, schnappt wieder mal ein Fisch nach Luft. Die 200 Kilometer lange Tour von Besançon nach Basel fühlt sich an wie eine Reise in die Vergangenheit.

Die Route ist Teil der sogenannten Euro-Velo 6, dem längsten europäischen Fernradweg, ein Marathon vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer durch zehn Länder und an sechs Flüssen entlang. „Immer wieder kommen Leute mit riesigem Gepäck vorbei", erzählt Frédérique Coobar, Tourismusbeauftragte von Besançon, bei einem Espresso in einer Kaffeebar. Die Kommune hat sich auf die Fernradler eingestellt - mit dem „Accueil Velo" - einer Station, an der sie ihre Radtaschen sicher aufbewahren können, um durch Besançon mit eleganten Pa­trizierhäusern aus blauschimmerndem Kalkstein zu flanieren. Die mittelalterliche Stadt hat unter anderem eine Weltkulturerbe-Stätte zu bieten.

Anfahrt Von Düsseldorf mit dem ICE nach Mannheim und von dort mit dem TGV nach Besançon Franche-Compté. Mit dem Auto geht es auf der A1 nach Saarbrücken. Von dort auf der A4 Richtung Strasbourg und danach auf der A35 und der A36 bis Besançon fahren. Die Strecke ist insgesamt rund 640 Kilometer lang, die Fahrzeit beträgt knapp sieben Stunden.

Radroute Von Besançon auf die Euro Velo 6 entlang des Doubs bis Montbéliard fahren. Von dort führt der Fernradweg weiter an der Allaine und am Canal du Rhone au Rhin durch das Elsass bis nach Basel. Die Tour ist im Buch „Euro Velo 6/ Frankreich Ost" von Bikeline beschrieben.

Die Zitadelle des Baumeisters Vauban riegelt die Stadt zu den Bergen hin ab. Unter der Festung funkelt der Doubs dunkelgrün. Er windet sich in einer Schleife um die Altstadt. Im dortigen Uhrenmuseum lässt sich die Zeit zurückdrehen in eine Epoche, als Stunden, Minuten und Sekunden mit Gewichten und Triebfedern gemessen wurden. Besançon galt als Zentrum der Uhrmacherei.

Heute ist es eine gemütliche Departement-Hauptstadt. Am Ufer des Doubs ankern Hausboote mit Oleandern und Palmen an Deck. Von dort führen die blauen Schilder mit einem Sternenkranz um die Nummer 6 zum Fernradweg. Zwischen den hellgrünen Wiesen und Wäldern wirkt der Fluss wild und ungebändigt - ein dunkles Band, das im 19. Jahrhundert die Hauptverkehr­s­­ader war, um Waren vom Mittelmeer zur Nordsee zu befördern.

Die einstige wirtschaftliche Bedeutung der Gegend lässt sich an den zerfledderten Industrie-Ruinen ablesen, an denen man mit dem Rad vorbeifliegt. In Deluz, 18 Kilometer von Besançon entfernt, stehen nur noch die Grundmauern einer Papierfabrik. Leider bewahrheitet sich die Wetterprognose aus den Morgen-Nachrichten. Der Himmel erinnert inzwischen an eine rußige Decke.

Dicke Tropfen hämmern gegen den Fahrradhelm und hinter einer Bergkuppe grollt der Donner. Es hilft nichts, wir müssen vom Rand der Zeit zurück in die Gegenwart und einen Unterstand finden. Die einzige geöffnete Einkehrmöglichkeit ist ein Café im Jachthafen von Deluz. Schnell trudelt hier eine Zufallsgemeinschaft ein.

Man kommt ins Gespräch. Ein Mann aus Nizza in Anglerkluft berichtet von seinen Ferien als Kind in diesem Städtchen. Jetzt will er Urlaub in der Vergangenheit machen, was nicht so einfach ist, denn vieles hat sich verändert. „In den 50er-Jahren haben fast alle in der Papierfabrik gearbeitet. Heute gibt es hier nicht einmal mehr eine Bäckerei, eine Metzgerei oder Ärzte", sagt er etwas ratlos.

Auch Jean Marc sattelt wegen des Regengusses ab. Der Korse in dunkelblauen Radklamotten sieht aus wie ein Verwandter von John Malkovich. Er ist ein Trekkingradler mit viel Zeit. Vor fünf Wochen stieg er am Schwarzen Meer in die Tour ein und fährt die ganze Strecke ab. „Ich bin Rentner, warum soll ich mich zu Hause langweilen", sagt er lapidar. Dann lieber Abenteuer. Als sich der Himmel wieder aufhellt, fahren wir in entgegengesetzte Richtungen weiter. In Montbéliard, dem württembergische Grafen im 15. Jahrhundert ein Schloss mit imposanten Türmen hinterlassen haben, trennt sich der Fernradweg vom Doubs. Auf früheren Treidelpfaden geht es zur Wasserscheide bei Dannemarie.

44 Schleusen, gebaut in den 1920er- und 1930er-Jahren, führen in Kaskaden wie ein riesiges Uhrwerk hinab in die Ebene. Wenn uns auf der Strecke nun Radtouristen grüßen, merken wir, dass wir langsam aus dem Bonjour- ins Guten-Tag-Land überwechseln. Die letzte Etappe vor Basel verläuft durch die kleine Camargue: Das Naturschutzgebiet mit Auen und alten Kanälen sieht aus, als hätten Impressio­nisten hier ihren Pinsel angesetzt. Ein letzter französischer Farbtupfer, bis wir wieder im Jetzt ankommen: am beschäftigten Industrie- und Kreuzfahrthafen von Basel.

Zum Original