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Deutschland um 1800: Zur Gelehrten erzogen

Ihr Vater will beweisen, dass Mädchen genauso lernfähig sind wie Jungen. Der Plan des ehrgeizigen Professors geht auf: Mit 17 Jahren wird Dorothea Schlözer als erste Frau in Deutschland zum Doktor der Philosophie promoviert


Zur feierlichen Verkündung ihrer Promotion darf Dorothea Schlözer (1770-1825) nicht erscheinen: Unverheiratete Frauen sind bei akademischen Festivitäten nicht erwünscht

Am Abend des 25. August 1787 hat die 17-jährige Dorothea Schlözer eine Verabredung, die Geschichte machen wird: Im Haus eines Göttinger Professors legt sie die Doktorprüfung der philosophischen Fakultät ab - als erste Frau in Deutschland. Mit Macht verbreitet sich in jenen Jahren die Philosophie der Aufklärung. Zu deren Zielen gehört unter anderem die Anerkennung der Gleichheit aller Menschen. Und manche ihrer Anhänger sehen die Frauenbildung als Chance, um zu belegen, dass das Denkvermögen unabhängig ist vom Geschlecht. Zu diesen Aktivisten gehört Dorotheas Vater, der Göttinger Geschichtsprofessor August Ludwig Schlözer. Am Beispiel seiner eigenen Tochter will er die Wirkung systematischen Unterrichts auch auf Mädchen beweisen. Er beginnt, Dorothea quasi abzurichten.


Bereits mit knapp drei Jahren lernt sie Französisch, bald darauf Englisch, Italienisch, Schwedisch und Holländisch. Anhand einer vom Vater verfassten Fibel trainiert sie Lesen und Schreiben. Als Fünfjährige paukt das ungewöhnlich begabte und interessierte Mädchen Mathematik und Geometrie, begleitet den Vater später auf Reisen durch Deutschland und nach Italien. Da Frauen zu ihrer Zeit kein Studium an einer Universität absolvieren dürfen, genießt sie ausschließlich Privatunterricht. Mit 16 Jahren fährt Dorothea für sechs Wochen allein in den Harz, um in einem Bergwerk ihren Studienschwerpunkt Mineralogie zu vertiefen. Kurz nach ihrem 17. Geburtstag lädt sie die Göttinger Universität zur mündlichen Promotionsprüfung ein. Für Dorothea kommt wegen ihrer Spezialisierung auf Gesteinskunde nur ein Examen an der philosophischen Fakultät infrage, an der unter anderem Naturwissenschaften gelehrt werden; zudem ist der Dekan mit ihrem Vater gut bekannt. Dass Dorothea überhaupt zum Examen zugelassen wird, verdankt sie wohl ihrer Stellung als Professorentochter. Sie wird von der öffentlichen Disputation befreit, doch ihre Prüfung entspricht den Standards: Vor acht Professoren übersetzt sie eine Passage aus einem lateinischen Werk, bestimmt ein Stück Erz, beantwortet Fragen zur Münzkunde und Kunstgeschichte. Sie bleibt fehlerlos, und die Prüfer beschließen einstimmig, ihr als erster Frau in Deutschland einen Titel als Doctor philosophiae zu verleihen. (Vor ihr ist allerdings bereits 1755 die Medizinerin Dorothea Erxleben promoviert worden.) Eine Sensation! Journale im In- und Ausland berichten über ihren Erfolg, Händler bieten Kupferstiche mit Dorotheas Porträt an. Doch sie wird eher als exotische Attraktion angesehen, nicht als Pionierin der weiblichen Emanzipation. Das zeigt sich schon, als sie an der Universitätsfeier, bei der die Namen der neuen Doktoren verlesen werden, nicht teilnehmen darf: Ledige Frauen sind bei diesem Festakt unerwünscht.


Eine akademische Karriere versucht sie gar nicht erst zu erlangen, ohnehin wäre es vermutlich aussichtslos. Und selbst ihr Vater - der mit seinem Dressurakt ja sein Ziel erreicht hat - denkt nun offenbar eher daran, seine Tochter zu verheiraten. 1792 ehelicht sie den Lübecker Kaufmann Matthäus Rodde. Ihre Bildung nutzt sie fortan vor allem als Gastgeberin: Häufig treffen sich in ihrem Haus Politiker, Diplomaten und Gelehrte, um über Philosophie oder Politik zu diskutieren. Als ihr Mann 1810 bankrott geht und einen Nervenzusammenbruch erleidet, zieht Dorothea zurück nach Göttingen, verdient ein wenig Geld mit Übersetzungen und nimmt bald nur noch auf gelegentlichen Tanztees am öffentlichen Leben teil. Bereits mit 54 stirbt die Gelehrtentochter, die ihrem Vater als ein Beispiel der Emanzipation dienen sollte, als zurückgezogene, unglückliche Hausfrau. Kurz zuvor, gezeichnet von immer wiederkehrenden Krankheiten, hatte sie resigniert einen Satz formuliert, der die Tragik ihres Lebens in sich trug. Sie hoffe, so schrieb sie in einem Brief an ihren Bruder, sie sei nun endlich „fertig" mit ihren „Lehrjahren".

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