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Überfall der russischen Armee: So haben neun Ukrainer den Angriff auf ihr Land erlebt

Um 4 Uhr früh weckten mich die Explosionen. Explosionen! In Kiew! Ich konnte es erst mal nicht glauben, habe die Nachrichten eingeschaltet. Und sah: Friedliche Städte im ganzen Land werden bombardiert. Am Abend zuvor hatte ich mich noch normal schlafen gelegt, ich wollte morgens wieder zu meiner Arbeit, als Social-Media-Managerin bei einer Marketingfirma. Doch stattdessen wurde mir klar: Ich muss wieder fliehen. Schon 2014 haben wir, meine Familie und meine Freunde, unsere Koffer gepackt und sind aus unserer Heimatstadt Luhansk geflohen. Diejenigen, die nicht gehen konnten, blieben unter Beschuss. Die Geschichte wiederholt sich jetzt, und in diesem Moment, als ich den Fernseher eingeschaltet hatte, konnte ich nicht mehr: Ich fiel zu Boden und weinte. Doch ich wusste auch, dass ich hier in meiner Hochhauswohnung nicht sicher bin. Deshalb packte ich schnell meine Taschen, Dokumente, Wasser, notwendige Dinge. Mein Freund holte mich zu Hause ab, da ich nicht allein gehen konnte. Wir fuhren zu einer Bar, wo ich früher gearbeitet habe, dort ist es sicherer, es gibt einen Luftschutzkeller in der Nähe. Es ist ein Albtraum. Ich appelliere an alle: Es ist Krieg mitten in Europa, bitte schweigt nicht! Viele Zivilisten könnten umkommen. Russland bringt uns um! Eleonora, 27 Jahre, Kiew

Es muss aufhören

Ich wurde vom Klingeln meines Handys geweckt: „Charkiw wird bombardiert", sagte der Anrufer. Im gleichen Moment hörte ich auch hier in Kiew Explosionen und Beschüsse. Draußen, circa eine halbe Stunde entfernt von der Innenstadt, wo ich lebe. Ich befinde mich noch zu Hause und denke darüber nach, was ich als Nächstes tun werde. Entweder verschwinde ich in einem Bunker, oder ich schließe mich der ukrainischen Armee an und greife zur Waffe. Ich arbeite hier als Ingenieur. Ich will mein Zuhause nicht aufgeben und den Russen nicht mein Land überlassen. Putin denkt, er sei ein Imperator. Ich träume seit Langem davon, dass er stirbt, denn dann würde das alles aufhören. Um meine Verwandten habe ich Angst, sie leben zwischen der Krim und dem Donbass. Sie überlegen auch zu fliehen. Eins ist sicher: So einfach geben wir uns nicht geschlagen. Nikita, 25 Jahre, Kiew

Die Leute sind nervös

Um 5 Uhr erklärte Putin der Ukraine den Krieg, um 5.20 Uhr wurden wir in Odessa mit Raketen attackiert. Seitdem fliegen jede Stunde russische Raketen auf unsere ukrainischen Basen, riesige Staubwolken bilden sich. Und auch zivile Ziele werden angegriffen, Zivilisten werden getroffen. Im Prinzip herrscht keine große Panik, aber die Leute sind nervös. Viele fragen in Chats nach, wo sie helfen können, oder spenden Blut für das Militärkrankenhaus. Denn es gibt jetzt bereits Tote und Verletzte. Manche Banken haben geschlossen, es bilden sich lange Schlangen vor Tankstellen und Bankautomaten. Ich bin Abgeordneter der Partei der europäischen Solidarität und lebe hier in Odessa, habe aber auch Kontakt in andere Städte, nach Charkiw und Cherson. Da toben unerbittliche Kämpfe. Artilleriebeschuss. Es gibt allerdings auch viel Desinformation aus Russland: angebliche Fallschirmjäger über Odessa. Fakt ist: Viele Männer in Odessa schließen sich den territorialen Verteidigungskräften an. Ich hoffe, dass ich noch lange von hier berichten kann. So lange, bis die Verbindung zusammenbricht. Serhii Sizonenko, 31 Jahre, Odessa

Das ist eine Ungerechtigkeit

Ich befinde mich im Auto auf dem Weg nach Westen Richtung Lwiw (Lemberg), wie so viele. Als ich heute morgen die Bombeneinschläge in Kiew gehört habe, bin ich sofort losgefahren. Bei Lwiw hat die NATO einen humanitären Korridor nach Polen eingerichtet. Auf dem Weg sehe ich sehr viele Menschen, es bilden sich Staus, Leute verlassen mit Koffern ihre Häuser. Sie alle rennen zu den Bussen und versuchen zu fliehen. Während der Fahrt, auf dem Weg, fallen immer wieder Bomben, nicht weit entfernt von mir. Über mir fliegen Flugzeuge, auf der Straße rollen die Fahrzeuge des ukrainischen Militärs. Im Radio höre ich in den Nachrichten, wie die Streitkräfte das Land gegen die Russische Föderation verteidigen. Ich empfinde es als eine Ungerechtigkeit, dass im 21. Jahrhundert so was passiert - dass ein demokratischer Staat angegriffen wird. Und dass die Ukraine von allen Seiten bombardiert wird. Das ist ein Verbrechen. Dafür werden Putin und die russische Regierung irgendwann bezahlen. Einfach so wird das niemand vergessen. Andrej, 25 Jahre, Kiew

Wir sind freie Menschen

Meine Familie und ich suchen Zuflucht in der U-Bahn. In Kiew hören wir immer wieder Schüsse und Explosionen. Ich bin Künstlerin, Producerin und DJane und arbeite in der Musikindustrie. Mit meinen Freunden halte ich online Kontakt. Viele Russen schreiben mir: „Wir haben damit nichts zu tun. Wir sind gegen den Krieg, aber wir können nichts machen. Es macht keinen Sinn, auf die Demos zu gehen - das russische Volk gehorcht der Regierung." Das ist ein Unterschied zu uns Ukrainern. Denn wir wissen: Wir sind das Volk und die Gewalt. Das ist Demokratie. Mit meinen Freunden stand ich 2014 am Maidan Schulter an Schulter, damit wir in Freiheit leben können. Wir Ukrainer, wir sind freie Menschen. Wir geben nicht auf. Russland wird es niemals schaffen, uns zu unterwerfen. Wir haben keine Angst. Margareta, 22 Jahre, Kiew

Die Sirenen brüllen

Ich schlucke seit Wochen Pillen, um meine Nerven zu beruhigen. Ich sitze gerade mit Verwandten im Auto, sie bringen meine Mutter und mich aus der Stadt. Obwohl wir am Stadtrand Kiews leben, haben wir vier Stunden gebraucht, um rauszukommen. Wir flüchten nach Südwesten, zu meiner Großmutter nach Winnyzja. Dort ist auch mein Vater. Wir wissen aber nicht, ob es dort sicher sein wird. Ich bin von einer Chat-Nachricht aufgeweckt worden: „Charkiw und Kiew werden bombardiert, hau schnell ab", schrieb ein Freund. Noch gestern konnte ich mir einen totalen Angriff von Russland auf die Ukraine kaum vorstellen, obwohl die Lage seit letzter Woche sehr angespannt ist. Ich bin erschüttert und gestresst. Russlands imperiale Weltanschauung bedroht nicht nur die Ukraine, sondern die ganze Welt. Wir Ukrainer kämpfen für Freiheit und Frieden in ganz Europa. Die Sirenen brüllen, Zivilisten kommen um, Russland will die Ukraine zur Kapitulation zwingen, glaube ich. Wlad, 20 Jahre, Kiew

Wie im schlechten Traum

Um 4.30 Uhr hörte ich die ersten Explosionen in Kiew. Es war wie in einem schlechten Traum. Auch meine Mutter ist aufgewacht. Wir begriffen, dass wir nicht viel Zeit haben. Wir sammelten Hosen, Unterwäsche, Ladekabel zusammen, packten auch unsere Katze ein. Auf der Fahrt hatten wir Angst, alle fuhren aggressiv. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Nachrichten, über Facebook haben wir dann von der russischen Kriegserklärung erfahren. Eineinhalb Stunden sind wir zu meiner Cousine in ein Dorf gefahren, währenddessen hörten wir immer wieder Explosionen. Bei meiner Cousine haben wir ein Haus, einen Brunnen, wir sind versorgt. Deshalb bleibe ich ruhig. Auch weil ich weiß, dass die ukrainische Armee stark ist. Viele meiner Freunde und Verwandten sind aber in Panik verfallen. Europa muss verstehen, dass die Ukraine die Pufferzone zwischen Russland und Europa ist. Wenn wir Putin jetzt nicht aufhalten, geht alles weiter. Europa muss die Ukraine verteidigen. Die gesamte Welt, alle müssen gegen Putin aufstehen. Alles andere ist nicht zu entschuldigen. Tatjana, 27 Jahre, Kiew

Bunker unterm Haus

„Der Krieg hat begonnen." Mit diesen Worten hat mich meine Mutter um 6 Uhr früh geweckt. Ich glaubte ihr zunächst nicht. Wir haben zum Glück einen Bunker unter unserem Haus. Viele meiner Freunde sind jetzt hier und auch zwei Freunde aus Mariupol, aus der Konfliktzone im Osten der Ukraine. Alle sind schockiert. Wir haben Medikamente und Lebensmittel besorgt, die Fenster zugeklebt, einen Notfallrucksack gepackt. Die großen Attacken, haben wir erfahren, sollen wohl in der Nacht geschehen. Heute arbeitet kaum noch jemand, nur Supermärkte und Apotheken haben noch geöffnet, das ist der Wahnsinn. Die arbeiten trotz des Kriegs. Das geschieht alles zum ersten Mal. Aljona, 27 Jahre, Lwiw

Bis gestern war noch Schule

Es ist 20 Uhr, und wir sind im Haus meiner Mutter in der Nähe von Myrhorod weiter westlich angekommen. Wir kommen aus Charkiw, heute Morgen sind wir dort vom Lärm der Explosionen geweckt worden. Dass es Krieg geben könnte, war für uns unvorstellbar. Wir haben unsere Sachen gepackt, Papiere und Bargeld eingesammelt und die Fenster überkreuz mit dickem Klebeband versiegelt. Jemand sagte uns, dass das die Scheiben gegen Explosionen schützen könnte. Dann haben mein Mann, meine 16 und 10 Jahre alten Söhne und ich uns aufgemacht. Den Söhnen habe ich erklärt, dass die Politiker sich nicht einigen können. Dem Jüngeren geht die Situation deutlich näher als dem Älteren. An der Tankstelle haben wir eine Stunde gewartet, bis wir an Benzin kamen. Unsere Freunde, die Charkiw nicht verlassen haben, wurden aufgefordert, sich in Keller und U-Bahn-Stationen zu begeben. Dort sitzen sie jetzt noch immer, auch meine Freundin, die mich vor zwei Tagen noch ausgelacht hat, als ich fünf Konservendosen gekauft habe. Ich hoffe, dass wir irgendwie Asyl beantragen können. Zurück lassen wir unser friedliches Leben, die Bilder an den Wänden in der Wohnung, die Datscha. Bis gestern waren meine Söhne noch in der Schule. Elena, 43 Jahre, Charkiw

Aufgezeichnet von Daniel Hinz, Artur Weigandt und Jennifer Wiebking
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