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Proteste in Kasachstan: Kasachstan, schlaf nicht ein!

"Tante Lena, wie geht es dir? Gibt es bei dir in Ekibastus Proteste wie in Almaty?", fragte ich vor einigen Tagen am Telefon. "Proteste? Welche Proteste?", antwortete meine Tante. "Ich habe nichts mitbekommen. Keine Proteste. Keine Aufstände." Dass ich sie in der 132.000-Einwohner-Stadt im Osten Kasachstans überhaupt erreichen konnte - pures Glück. Telefon, Mobilfunk, Internet: In Kasachstan waren die Verbindungen tagelang gekappt. Dass meine Tante von den Protesten nichts mitbekam, spricht für die unklare Lage im Land. Kasachstan erinnert mich dieser Tage an einen Patienten, der durch eine Spritze ruhiggestellt werden soll.

Artur Weigandt

wurde 1994 in Uspenka (Kasachstan) geboren. Er studierte in Frankfurt am Main Ästhetik und absolvierte eine Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Das "Medium Magazin" wählte ihn 2021 zu den Top-30-bis-30-Journalisten.

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Seit ich 1995 mit meinen Eltern von Kasachstan nach Deutschland gezogen bin, sind wir jedes Jahr in mein Geburtsland gereist: mal mit dem Auto, mal mit dem Flugzeug. Die Menschen in Kasachstan erlebten den Zusammenbruch der Sowjetunion und die darauffolgende Anarchie. Dann kamen Nasarbajew und Tokajew. Die Präsidenten gaben Stabilität und Sicherheit.

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Doch dass diese Art der Stabilität trügerisch ist, zeigten schon die Proteste in der Ukraine, in Belarus und in Russland. Viele Kasachstaner sahen darin Putschversuche des Westens, auch weil die dortigen staatlichen Medien das so verbreiteten. Demonstranten wurden demnach angeblich bezahlt, um an Protesten teilzunehmen. Die Schuld daran trug immer der Westen. Auch wir, die wir aus Kasachstan weggegangen sind. Wir sind die Verräter.

Schon vor Jahren hatte ich den Eindruck, meine Verwandten verstanden mich nicht. All die Proteste in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion waren für mich Versuche, die postsowjetische autoritäre Zwangsjacke abzulegen. Zu lange standen diese kleinen Staaten unter dem Einfluss von Russland und Autokraten aus dem eigenen Land. Dass es in Kasachstan zu so großen Protesten wie den aktuellen kommt, das hätte ich nie erwartet. Die Menschen waren ruhig, zufrieden. Und jetzt? Ausschreitungen: Ich höre und lese von Toten. Von Gewalt. Von Verhaftungen. Von Massenprotesten. Es schockiert mich.

Das Kasachstan meiner Kindheit war ein Ort der kleinen Farmen, der Minarette, der Kirchen und der zerbrochenen sozialistischen Mosaikbilder an den Wänden von Schulen. Ein Land, das ich nicht wiedererkenne. Weil die Menschen aufgewacht sind. Und nun wieder gezwungen werden zu schlafen. Mit Gewalt. Und ich? Ich bin abgeschnitten von meinem Geburtsland. Von Onkel, Tante, Cousine und Cousin. Wie mindestens eine halbe Million andere Menschen in Deutschland. Kasachstan, schlaf nicht ein.

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