Immer wieder wird in den sozialen Medien diskutiert, ob es Rassismus gegen Weiße gibt. Einige antirassistische Aktivist*innen verneinen das, doch Osteuropäer*innen fühlen sich dadurch mit ihren rassistischen Erfahrungen nicht wahr- und ernstgenommen. Der Migrationsforscher und Autor des Buches "Postsowjetische Migration in Deutschland" Jannis Panagiotidis erklärt im Gespräch, wieso Osteuropäer*innen im antirassistischen Diskurs kaum Beachtung finden.
ze.tt: Jannis Panagiotidis, gibt es Rassismus gegen weiße Menschen?
Jannis Panagiotidis: Es gibt Rassismus gegen Menschen, die weiß gelesen werden: Osteuropäer, Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, postsowjetische Migranten oder Postost-Menschen, wie man sie neuerdings nennt. Diese Menschen hören oft, dass das, was sie erleben, kein Rassismus sein kann - weil sie weiß sind und ihr Weißsein auf ihre privilegierte Stellung deutet.
ze.tt: Ist Rassismus nicht an Hautfarbe gekoppelt?
Panagiotidis: Rassismus kann sich auch an Sprache oder Akzent aufhängen und auf Kultur oder Religion beziehen, deswegen reicht es nicht, nur in Schwarz und Weiß einzuteilen. Was auch oft vergessen wird: Antisemitismus. Jüdische Menschen werden in manchen antirassistischen Diskursen als weiß gelesen. Mal werden sie in den Rassismusdiskurs einbezogen, mal nicht. Wenn man dann pauschal sagt, es gibt keinen Rassismus gegen Weiße, wird es paradox.
Wenn man sagt, dass Rassismus gegen Weiße nicht existiert, ist das eine defensive Reaktion, die auch ihre Berechtigung hat - in dem Sinne, dass man sich gegen die rechte These wehren muss. Jannis Panagiotidis
ze.tt: Woher kommt diese These?
Panagiotidis: Wenn man sagt, dass Rassismus gegen Weiße nicht existiert, ist das eine defensive Reaktion, die auch ihre Berechtigung hat - in dem Sinne, dass man sich gegen die rechte These wehren muss, es gebe Rassismus durch Migranten gegen Weiße. Dieser soll sich durch Beleidigungen wie "deutsche Kartoffel" oder "Almans" ausdrücken. Das ist natürlich völliger Unsinn, weil es die strukturellen Machtverhältnisse außer Acht lässt. Das ist auch nicht, was ich unter Rassismus gegen Weiße verstehe.
ze.tt: Was verstehen Sie denn darunter?
Panagiotidis: Wir verwenden den Begriff weiß oft auf ganz verschiedene Weise. Nämlich einerseits als Chiffre für eine dominante Position in der Gesellschaft, aber andererseits doch in einem objektivierenden Sinne, also einfach mit Blick auf die Hautfarbe. Einige antirassistische Aktivisten interessieren sich nur für die Hautfarbe und machen daran fest, was Rassismus sein soll. Ob Menschen trotzdem subjektiv Rassismus erleben oder ob es eben andere Strukturen wie das antislawische Feindbild im Nationalsozialismus und im Kalten Krieg gibt, die sie zum Gegenstand rassistischer Diskriminierung machen, wird dabei vergessen.
ze.tt: Braucht es also andere Begriffe als "Weißsein"?
Panagiotidis: Ich würde diese Begrifflichkeiten nicht komplett über Bord werfen, aber ich denke, wir müssen unterschiedliche Konzepte und Ideen miteinander zusammenbringen. Wir brauchen einen Diskurs um analytische Begriffe, die uns erlauben, besser zu verstehen, was "Weißsein" meint: Einerseits als Hautfarbe, andererseits als soziales Konstrukt - und wie beides miteinander zusammenhängt.
ze.tt: Antislawischer Rassismus bezieht sich oft auf Sprache und Akzent.
Panagiotidis: Das ist ein Aspekt, aber es geht häufig auch um Aussehen. Das kann man sehr stark an Aussiedlern erkennen. Viele von ihnen sind aufgrund ihrer deutschen Herkunft mit ihren oftmals slawischen Partnern in den 1990ern nach Deutschland gekommen. Gerade als sie neu waren, war oft völlig klar, wer Aussiedler ist. Das konnte man am Habitus sehen, an der Sprache oder am Aussehen. In der deutschen Gesellschaft gibt es viele Abgrenzungsformen gegenüber Aussiedlern: Oft werden sie als russische Säufer oder Schläger gebrandmarkt.