Die Scorpions waren damals auf Tour in Frankreich, und unser Label hatte uns eingeladen. Wir waren in einem Club, in dem auch viele Fernseher standen. Irgendwann sah man die Menschen auf der Mauer tanzen und traute seinen Augen nicht. Mein erster Impuls war: Warum bin ich jetzt in Paris und nicht da, wo sich die Welt verändert? Es war ein bewegender Moment. Und dass Jahre später der Song „Wind Of Change" für viele Menschen in Ost und West mit dem Mauerfall in Verbindung gebracht wird, ist für mich immer noch etwas surreal. Es ist ja kein Song über Berlin oder den Mauerfall, sondern die Geschichte von jemandem, der am Fluss Moskwa entlanggeht und den Wind des Wandels spürt.
„Wind Of Change" fing den Zeitgeist der späten Achtziger ein. Wie würden Sie heute rückblickend die Stimmung von damals beschreiben?Wir sind 1988 in die Sowjetunion gefahren mit der Hoffnung, überhaupt eine Genehmigung für Konzerte in Leningrad und Moskau zu bekommen. Das hat auch geklappt. Aber in Moskau hat man uns schließlich kurzerhand wieder ausgeladen. Im damaligen Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, waren wir die erste westliche Rockband, die in der Sowjetunion auftreten durfte. Und zum ersten Mal fühlten wir uns nicht wie anderswo als internationale Band, sondern als Deutsche. Dort haben wir auf einer Pressekonferenz gesagt: „Unsere Eltern sind mit Panzern gekommen, wir kommen mit Gitarren." Es war sehr emotional.
Wie hat sich diese Stimmung ausgedrückt?Ein Beispiel: Nach dem letzten Konzert in Leningrad kam der Manager in die Garderobe, wo ich verschwitzt im Bademantel saß. Er überreichte mir eine Medaille eines Sport-Events, das in Leningrad stattgefunden hatte, und sagte: „Klaus, du hast für uns hier auf der Bühne gestanden. Jetzt singe ich dir etwas vor." Und dann hat er für uns russische Volkslieder gesungen.
Nach Moskau kamen Sie auch noch?Ja, ein Jahr später, im August 1989, spielten wir auf dem Moscow Music Peace Festival. Auch das haben wir sehr viel emotionaler empfunden als die Kollegen aus Amerika und England. Viele Bands sind nach Hause gefahren und haben gesagt: „Wir haben die Sowjetunion gerockt." Für uns war es etwas Tiefgreifendes.
Das waren Ihre ersten Konzerte im damaligen Ostblock.Damals kamen Fans aus der gesamten Sowjetunion und den Ostblockstaaten, aber natürlich auch aus der DDR. Wir hatten nie die Gelegenheit in all den Jahren, in der DDR aufzutreten. Die Soldaten der Roten Armee haben damals das Konzert abgesichert. Doch als wir anfingen zu spielen, warfen sie ihre Mützen in die Luft. Wir hatten das Gefühl, dass sich die Welt gerade vor unseren Augen veränderte. Dieses Gefühl habe ich kurz darauf in „Wind Of Change" wiedergegeben.
Wie sind Sie konkret auf den Song gekommen?Wir fuhren damals in einem Boot auf der Moskwa. Es war unbeschreiblich. Da waren Rockbands aus aller Welt, Journalisten und Soldaten der Roten Armee. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, die ganze Welt wäre hier vereint, verstünde einander und spräche dieselbe Sprache, nämlich die der Musik.
Viele Menschen haben das Lied auch mitgesungen, obwohl sie die Sprache nicht verstanden.Große Emotionen brauchen keine Sprache. Musik hat einfach einen direkten Zugang zu unseren Herzen.
Wo sehen Sie denn heute die Mauern? Braucht die Fridays- For-Future-Bewegung einen neuen „Wind Of Change"?So ein Lied schreibt man nur einmal im Leben. Und ich würde nicht aufgrund von globalen Ereignissen einen neuen Song schreiben. Aber wir reisen um die Welt und saugen auf, was wir abseits unserer Konzerte sehen und erleben. Wir sind jetzt gerade in Brasilien und sehen natürlich sehr deutlich, welche Katastrophen sich mit dem Regenwald, den Bränden, der Abholzung ereignen. Auch das, was mit dem Brexit vor sich geht, macht einem Angst. Wir sind Europäer von ganzem Herzen - mit unserer Geschichte und nach dem Mauerfall ganz besonders.
Ist die Zeit denn reif für einen neuen „Wind Of Change"?Die Zeit für einen neuen Song ist reif, keine Frage. Ich glaube, die junge Generation von Künstlern und Musikern wird immer wieder den Zeitgeist ausdrücken, es wird immer Lieder geben, die Menschen berühren und die Hoffnung ausdrücken, dass wir alle gemeinsam in einer friedlicheren Welt leben können. Meine Hoffnung, auch für Deutschland: Es kommen wieder junge Menschen, die sich stärker politisch einbringen. Und ich bin auch optimistisch, dass wir zusammen weiter in einem Europa leben, in dem wir uns nicht mehr voneinander abwenden, sondern aufeinander zugehen.
Haben Sie denn selbst an den Mauerfall geglaubt?Die Hoffnung haben wir immer gehabt. Dass es dann tatsächlich so schnell Realität werden sollte, konnte man zumindest im August 1989 nicht ahnen. Deutlich wurde es erst, als die Montagsdemonstrationen in Leipzig immer stärker wurden. Ich bin dankbar, dass ich Zeitzeuge von diesen historischen Ereignissen war. Mauerfall und Wiedervereinigung: eine Revolution, die ganz unblutig über die Bühne gegangen ist.
Da hat Michail Gorbatschow eine wichtige Rolle gespielt.Mit seiner Politik von Glasnost und Perestrojka war Michail Gorbatschow wirklich ein Mann, der die Welt verändert hat. Nachdem „Wind Of Change" in der ganzen Welt erfolgreich war, bekamen die Scorpions eine Einladung in den Kreml. Dort trafen wir auf Michail Gorbatschow, saßen am 14. Dezember 1991 eine Stunde lang in seinem Amtszimmer. Elf Tage später trat er zurück, und die Sowjetunion löste sich auf.
Und im November spielen Sie wieder in Russland.Wenn es die Gesundheit von Herrn Gorbatschow zulässt, werden wir an dem Tag an einem Essen zu seinen Ehren teilnehmen.