Was „Madama Butterfly" angeht, sind sich die meisten heutigen Regisseure einig: Weg mit dem Zuckerguss (der bei Golo Bergs subtil abgeschmecktem Dirigat ohnehin keinen Diabetes-Schock verursacht). Das kann auf Ironisierung des Jungmädchen-Kitsches hinauslaufen, den Cio-Cio bei Pinkertons Anblick äußert. Oder, wie in Münster, auf düsteres Ambiente (tolle Bühne: Bernhard Niechotz), welches allen rosaroten Sehnsüchten schon via Netzhaut eine Absage erteilt. Wie ein Gefängnis aus Metall wirkt die Bühne, auf der nur ein kleiner blühender Kirschbaum das liebliche Japan-Klischee sarkastisch aus den Angeln hebt.
Hans Walter Richters Butterfly-Deutung geht weit ins Psychologische. Der Regisseur fokussiert sich auf die Bande zwischen Butterfly und ihrem per Harakiri umgekommenen Vater sowie ihrem Sohn, der wiederum den Selbstmord der Mutter miterleben muss. Er präsentiert also ein generationen-übergreifendes Zerstörungsmuster. Er zeigt den Schmachtfetzen als großes Familiendrama.
Da passt es, dass Kristi Anna Isene optisch nicht als lolita-hafter, zerbrechlicher „Schmetterling" daherkommt, sondern Mütterlichkeit ausstrahlt. Wie eine bodenständige italienische „Mamma" à la Sophia Loren sieht sie aus, wenn sie singend ihren Sohn auf die Arme hebt. Und wenn Butterfly in ihrem bescheidenen „Home sweet Home" (eine von der Decke herabgelassene Wellblechhütte!) die Kerze anzündet und sich einen weißen Schleier aufs Haupt legt, wirkt sie wie eine Madonna. Visualisiert feierlich jenes Christentum, das sie heimlich zu Pinkertons Gefallen angenommen hat. Das Gefallen wird von dem charakterschwachen Ami-Soldaten übrigens so sinnlich erwidert, dass man nicht weiß, ob Puccinis Arien die Küsse beflügeln oder umgekehrt. Tenor Garrie Davislim (Pinkerton) gelingt es, mit der vokalen Wucht Isenes mitzuhalten: Beide zelebrieren das Duett „Vogliatemi bene, un bene piccolino".
Überhaupt gibt es keine stimmlichen Ausfälle, das Sinfonieorchester Münster schmiegt sich zwischen Fugensatz und leeren Quinten dem Geschehen an, hat aber wo nötig auch richtigen Punch. Und während Butterflys durchwachter Nacht, wo der Summchor (Einstudierung: Inna Batyuk) geisterhaft vermummte Gestalten auf den Plan ruft, ist famose Opernregie zu bestaunen. Auf Anspielungen im Sinne einer „Aktualisierung" wird verzichtet. Dennoch: Als Butterfly mit Dienerin Suzuki (Judith Gennrich) zu Hause ihren kleinen Sohn betüdtelt, wobei dessen erwachsene „Zukunfts-Vision" wie ein trauriger Rucksack-Student umherstreicht, trifft es einen wie ein Blitz: Man erblickt plötzlich jene „vaterlose Gesellschaft", wie sie in jedem Dorf und jeder Straße anzutreffen ist. Was könnte aktueller sein?