Im Zimmer des Täters herrscht Chaos. Hinter einem blauen Vorhang liegen zwei umgestürzte Betten, auf einem Beistelltisch Bücher und Papiere. "Die Polizei hat alles durchwühlt", sagt Mehdi*, der gemeinsam mit Yassine Kanjaa und vier anderen jungen Marokkanern in dem verwahrlosten Häuschen in Algeciras gelebt hat. Mehdi deutet auf verstreute Kleider, die die schimmeligen Stufen im Hof bedecken. Kanjaas westliche Kleider. Die seien für ihn nun verboten, habe Kanjaa behauptet - so erzählt es Mehdi der ZEIT nach der Bluttat.
Yassine Kanjaa stürmte am vergangenen Mittwoch, bewaffnet mit einer Machete, in zwei Kirchen, verletzte vier Menschen und erstach schließlich einen Küster. Nun ermittelt die Audiencia Nacional, das in für Terrordelikte zuständige Gericht, wegen des Verdachts auf ein dschihadistisches Attentat. Es wäre das erste in der südspanischen Hafenstadt Algeciras, die bisher als Musterbeispiel für gutes Zusammenleben der Religionen galt.
Die muslimischen Mitbewohner des Verhafteten wirken hilflos. Ihnen sei früher schon aufgefallen, dass mit Yassine Kanjaa etwas nicht stimme. "Er war etwas paranoid", sagt Maleek*, ein 28-Jähriger mit gegelten Haaren und bunter Winterjacke. Maleek ist der einzige der vier Bewohner, der einen Arbeitsvertrag und eine Aufenthaltsgenehmigung hat. Bereits auf kleinste Geräusche habe Yassine empfindlich reagiert, sein aufbrausender Charakter sorgte für Zwist. "Aber vor zwei Monaten wurde es richtig schlimm." Er sei ausfallend geworden, wenn Frauen ins Haus kamen, habe an Flaschen gerochen, um zu prüfen, ob sie Alkohol enthielten. "Alles war plötzlich haram." Haram bedeutet nach der Scharia verboten.
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Vor zwei Wochen bedrohte Kanjaa einen Mitbewohner mit einer Machete, weil der schlecht über ihn geredet hatte. Der junge Mann zog noch am selben Tag aus. Es war vermutlich dieselbe Waffe, mit der Kanjaa nun loszog, um einen Menschen zu töten: ein etwa 50 Zentimeter langes Messer mit breiter, gekrümmter Klinge. Während der Glaubenskriege der spanischen Reconquista wurden ähnliche Waffen von christlichen wie muslimischen Kämpfern verwendet.
Völlig außer sich habe Yassine an jenem Nachmittag gewirkt, erzählt Sab*, ein weiterer Mitbewohner. Yassine habe an einer Straßenecke, keine 15 Meter vom Haus entfernt, ein Mädchen bepöbelt. Sab fuhr ihn an, es in Ruhe zu lassen. "Ich bring dich um, ich bring dich um", schrie Yassine daraufhin angeblich. Dann stand er still, starrte ins Nichts. "Als hätten seine Augen etwas anderes gesehen als ich."
Die Tatorte sind eine klassische andalusische Kulisse. Die Plaza Alta ist ein von Palmen und Orangenbäumen gesäumter Platz, auf dem Rentner Nachmittagsplausch halten und Kinder Skateboard-Tricks üben. Im Westen erstrahlt weiß die Pfarrkirche Nuestra Señora de La Palma mit ihrem Glockenturm im Kolonialstil, ein Wahrzeichen der Stadt. Auch wenn die Zahl der Katholiken in Spanien mit 18 Prozent auf einem historischen Tiefstand ist: Hier feiert man täglich die Messe.
In der Kirche Nuestra Señora de La Palma arbeitete Diego Valencia, der an diesem Tag von Yassine Kanjaa erstochen wird, 16 Jahre lang als Küster. Nur 500 Meter entfernt steht eine bescheidenere Kirche, die Parroquia San Isidro. Hier zelebriert der Salesianer-Priester Antonio Rodríguez, den der Täter schwer verletzt.
Bereits am frühen Abend des Tattages soll Kanjaa durch die Altstadt gezogen sein. Der 25-jährige Marokkaner mit dem rotbraunen Haar und dem Vollbart trägt über einer weißen Jogginghose eine schwarze Dschellaba. Solche langen Gewänder sind nichts Ungewöhnliches in Algeciras: liegt in Sichtweite, die Fähre nach Nordafrika verkehrt bis zu 14-mal täglich. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung sind Muslime, zum Fastenbrechen und anderen Festen laden sie Christen ein.
Laut Zeugenaussagen betritt Kanjaa die San-Isidro-Kirche erstmals gegen 18.30 Uhr. Pfarrer Antonio Rodríguez und seine Küsterin bereiten die Abendmesse vor. Kanjaa nimmt die Bibel vom Pult, sagt, dieses Buch sei nichts wert. Es kommt zum Wortgefecht. Doch als die Küsterin ihm die Tür weist, leistet er Folge. Ob er die Tatwaffe schon bei sich trägt, bleibt unklar.
Er könnte in seine Wohnung zurückgekehrt sein. Das Haus mit den zerbrochenen Fensterscheiben in der gepflasterten Gasse, ein Fremdkörper zwischen schmucken weiß-blauen Gebäuden, liegt nur hundert Meter entfernt. Dort in der Nähe begegnet ihm sein erstes Opfer, ein Marokkaner, den er als "Ungläubigen" beschimpft, ihm einen Faustschlag versetzt und seine Brille zerstört. Laut Aussage des Opfers trägt Kanjaa da die Machete schon bei sich.