In Kolumbien arbeiten rund 1,7 Millionen Venezolaner. In der Corona-Pandemie verlieren die meisten ihre Bleibe und ihren Job. Nun müssen sie sich auf den gefährlichen Weg zurück in ihre krisengeschüttelte Heimat machen.
Gabriela Gil, 25, und Daniela Gonzalez, 26, sitzen an einer Bushaltestelle. Sie warten. Aber die Busse, die an der Autopista Norte, einer Schnellstraße im Norden Bogotás abfahren, bringen sie nicht an ihr Ziel. Und selbst wenn: Das Geld für eine Fahrkarte von Kolumbiens Hauptstadt bis nach Cúcuta an der Grenze zu Venezuela hätten sie sowieso nicht.
Die beiden Cousinen haben sich nur auf die Bank fallen gelassen, weil sie eine Pause brauchen. Am Morgen sind sie mit ihren Koffern in Kennedy losgelaufen, einem Stadtteil im Südosten Bogotás. 20 Kilometer haben sie bisher zurückgelegt, 538 liegen noch vor ihnen. "Meine älteste Tochter ist sieben. Sie hat mir erzählt, dass sie jeden Tag an der Tür auf mich wartet, bis ich ankomme", sagt Gonzalez. "Das gibt mir Kraft, weiterzugehen."
Vor einem Jahr sind die Cousinen zusammen aus einem kleinen venezolanischen Fischerdorf nach Kolumbien geflohen - vor dem Hunger, der Armut, der Wirtschaftskrise. Ihre Kinder haben sie bei den Vätern und Großeltern zurückgelassen. Und zunächst schien der Plan aufzugehen: Gabriela Gil fand Arbeit in einer Bar, Daniela Gonzalez verkaufte "Tinto", schwarzen Kaffee, auf der Straße. Jeden Monat konnten sie ein wenig Geld heimschicken. Doch als wegen der Corona-Pandemie eine Ausgangssperre verhängt wurde, verloren beide sofort ihren Job, konnten die Miete nicht mehr zahlen und landeten auf der Straße. Jetzt kehren sie in das Land zurück, aus dem sie geflohen sind.
Mehrere Tausend Venezolaner sind seit Anfang April nach Hause aufgebrochen. Es ist eine verletzliche Gruppe. 90 Prozent der rund 1,7 Millionen Venezolaner in Kolumbien leben von der Schwarzarbeit. Mit der Ausgangssperre ist der informelle Sektor komplett zusammengebrochen, sodass viele die Tagesmiete für ihre Unterkunft nicht mehr zahlen konnten. Obwohl Präsident Iván Duque verboten hat, Mieter aus ihren Wohnungen zu werfen, landeten viele Menschen auf der Straße und beschlossen zurückzugehen.
"Die Vorschriften der Regierung führen zu nichts", sagt Alba Pereira, Leiterin der NGO " Entre Dos Tierras". Die gelernte Köchin hatte ein Restaurant in Bucaramanga eröffnet, einer Großstadt rund 200 Kilometer von der venezolanischen Grenze entfernt. Als die ersten Flüchtlinge aus Venezuela nach Kolumbien kamen, ging sie auf die Straße und verteilte Essen und Medikamente. Doch es kamen immer mehr Menschen durch die Stadt - seit Kurzem ziehen sie in die Gegenrichtung. Heute bereitet Pereira mit ihrem kleinen Team bis zu 800 Mahlzeiten täglich zu. "80 Prozent der Venezolaner, die ich hier treffe, sind von ihren Vermietern auf die Straße gesetzt worden", sagt sie. "Ob das nun verboten ist, oder nicht."
So erging es auch Sandher Vilera, 29, und seiner Frau Yuliangel Castro, 18. "Der Vermieter ist nachts zu uns gekommen und hat gesagt, wir könnten nicht mehr bleiben. Da standen wir auf einmal auf der Straße." Sie hätten bis zum Morgen gewartet und seien dann losgelaufen. Am Busterminal im Norden der Stadt trafen sie Ana Virginia Torres, 21, Eddy Rios, 26 und Jesus Silva, 46. Eigentlich wollte die Gruppe einen Bus zu nehmen - doch am Terminal hätten Polizisten ihnen sogar noch eine Geldstrafe aufgebrummt, sagt Ana Virginia Torres: "Wegen der Ausgangssperre hätten wir uns dort nicht aufhalten dürfen."
Also entschied die Fünfergruppe, den Weg gemeinsam zu Fuß zu bestreiten. Laut Zahlen des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR laufen derzeit täglich 250 Menschen über die Simón-Bolivar-Brücke, die Kolumbien und Venezuela in Cúcuta miteinander verbindet. Der Weg bis dahin ist gefährlich. Neben bewaffneten Gruppen, Wegelagerer die meisten von ihnen, sind es die Temperaturen, die zu schaffen machen.
Der letzte Abschnitt des Wegs führt über einen Berg auf 3356 Meter Höhe, den Monte Páramo. In den Nächten herrschen dort Temperaturen um den Gefrierpunkt. Jesus Silva macht seine Tasche auf, zwei Sweatshirts und einen dünnen Pulli hat er dabei für den kalten Aufstieg. Mehr konnte er nicht mitnehmen. "Wir brauchen den Platz, um Essen zu transportieren", sagt er. Alle in der Gruppe haben die Gerüchte gehört - von den Banditen, den kalten Nächten, den Tagen ohne Mahlzeiten. "Wenn wir auf das alles hören würden, wären wir nicht mehr hier", sagt Ana Virginia Torres. "Wir versuchen einfach, nicht daran zu denken."
Internationale Organisationen versuchen derzeit, die Menschen von der Reise abzuhalten. "Neben der Ansteckungsgefahr bleibt die Unsicherheit, ob und wann die Menschen überhaupt nach Venezuela einreisen können", sagt Jozef Merkx, Vertreter des UNHCR in Kolumbien. An der Grenze in Cúcuta würden sich bereits Schlangen bilden. Und selbst wenn die Menschen die Grenze passieren, stünden zwei Wochen Quarantäne jenseits der Grenze an - und die Versorgung in den umliegenden Dörfern sei schlecht. Ab Mittwoch würden internationale Organisationen mithelfen, 200.000 von der Duque-Regierung organisierte Essenspakete zu verteilen; außerdem soll es Unterstützung für Menschen in Not geben - unter anderem Deutschland, die USA und Japan haben bereits finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. "Das reicht aber bei Weitem nicht", so Merkx.
Deyson Padrón glaubt nicht, dass das größte Problem der Mangel an Spenden ist. Er ist Vizepräsident des Dachverbands venezolanischer Hilfsorganisationen "Gran Acuerdo Venezuela". "Wir sehen immer wieder, dass die Kommunikation zwischen Regierung, internationalen Hilfen und den Versorgern vor Ort nicht funktioniert", sagt er. "Viele Akteure drängen sich ins Rampenlicht - aber effektive Hilfen kommen nur vereinzelt an."
Kenny, 34, und Kevin Torres, 27, hat niemand geholfen. Die beiden Brüder sind Automechaniker, haben bis zum letztmöglichen Moment in einer Werkstatt in Bogotá gearbeitet. Als die Ausgangssperre kam, entschieden sie zu gehen. "Unser Vermieter war ein toller Mensch, aber ohne Miete zu zahlen, wollten wir nicht bleiben", sagt Kevin Torres. Also bepackten sie ihre Fahrräder. Anstatt die Route über Cúcuta zu nehmen, wollen sie bis zum östlicher gelegenen Arauca radeln. "Die Strecke ist flacher, und wir hoffen darauf, dass dort nicht so viele Menschen die Grenze passieren." Sie sorgen sich eher wegen der Strecke nach der Grenze. "Wir gehen zurück in eine Diktatur", sagt Kenny Torres. "Es gibt dort wenig zu essen, keine Medikamente - und ich glaube nicht, dass die Regierung Flüchtlinge wie uns mit offenen Armen empfängt. Wir sind ja quasi Vaterlandsverräter."
Es ist eine Zwickmühle: Viele Venezolaner haben in Kolumbien Diskriminierung erfahren. Ein Großteil von ihnen hat keinen legalen Status. "Entre-dos-Tierras"-Chefin Alba Pereira hat immer wieder erlebt, dass Venezolaner mit dem Virus assoziiert werden, wie sie sagt. "In einer Krise wie dieser kommt die Fremdenfeindlichkeit durch." Andererseits glauben viele Rückkehrer nicht an ein herzliches Willkommen in ihrem Heimatland.
Ana Virginia Torres ist das egal. Sie will Kolumbien so schnell es geht verlassen, zurück zu ihrer Familie, ihrer kleinen Tochter. Sie habe nicht ein einziges Mal Unterstützung in Kolumbien erfahren, sagt sie. Ihr Arbeitgeber habe sie direkt zu Beginn der Pandemie entlassen, eine Abfindung habe sie nicht bekommen, erzählt sie resigniert. Zuletzt sei sie bei der Ausländerbehörde gewesen, um Hilfe für den Rückweg zu erbitten, doch die hatte geschlossen. "Wir gehen doch schon", sagt sie beinahe zornig. "Gebt uns wenigstens die Möglichkeit, den Weg zu überstehen."