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Chinas suchende Körper

Die Universität Bonn befragte vor einigen Jahren Experten zur deutschen Medienberichterstattung über China. Gerade einmal drei Prozent der Befragten fanden, dass die deutschen Medien sich dem Land mit einem neutralen Blick nähern. Deutschland tue sich schwer mit einem differenzierten Blick auf andere Länder, heißt es da, und so greife man in den Medien auf verlässliche Stereotype zurück.

Besonders blöd macht es seit je der Spiegel. 2004 zeigte das Titelbild einen feuerspeienden Drachen, der die Weltkugel entzweit. Zwei Jahre später zierten Terrakotta-Soldaten das Cover: „Angriff aus Fernost". China, die aggressive Weltmacht, so der Subtext, geht für Wohlstand über Leichen. Bereits vor 120 Jahren stilisierte Wilhelm II. China zum fremden Aggressor, um ein hartes Durchgreifen gegen den antiimperialistischen Boxeraufstand voranzutreiben.


Je ausgefeilter aber das Zensur- und Überwachungssystem der chinesischen Regierung tatsächlich wurde, desto tiefer verwurzelte sich im Westen auch das Bild einer Bevölkerung, die nur aus hörigen Arbeitsrobotern besteht. Dass diese antichinesischen Ressentiments leicht in stumpfen Rassismus kippen, beweisen auch Teile der westlichen Berichterstattung zum Coronavirus, „made in China".

Der Propaganda Pekings spielt das nur in die Hände. Denn Peking hat großes Interesse daran, das eigene Volk als loyale Einheit zu präsentieren. Will die Regierung Menschenrechtler oder Künstler verunglimpfen, reicht es oft bereits, ihnen vorzuwerfen, sie hätten sich vom gesellschaftlichen Mainstream entfernt.

Welche Rolle kann die Kunst in Anbetracht eines gigantischen Kontroll- und Unterdrückungsapparates überhaupt einnehmen? Zwei mögliche Antworten liefern aktuell die Ausstellung des Fotografen Ren Hang sowie die neuste Arbeit der Filmemacherin Shengze Zhu. Beide zeigen auf sehr unterschiedliche Weise, dass in einem Land, in dem die Zensur vor allem auf eine Gleichschaltung von Werten und Wahrnehmungen abzielt, die Inszenierung eines Ichs allein als radikaler Akt verstanden werden kann.


Für den Film Present.Perfect. hat die Filmemacherin Shengze Zhu zehn Monate lang auf der Online-Streaming-Seite Douyu Menschen dabei zugesehen, wie sie ihr Leben via Livestream teilen. Mit über 450 Millionen Streamern und Zuschauern ist Livestreaming ein riesiger Markt in China. Aus 800 Stunden Videomaterial hat Shengze Zhu einen zweistündigen Dokumentarfilm zusammengeschnitten, der ein Panorama des gegenwärtigen China abseitsseiner Machtzentren und seiner orchestrierten Kommunikation zeigt. Man sieht etwa einen Bauern, der einen matschigen Hang beackert und erzählt, er träume davon, hier einmal Städtern Agritainment zu bieten. Eine junge, alleinerziehende Mutter sendet direkt aus der Fabrik, wo sie im Sekundentakt Unterhosen zusammennäht. Nach Schichtende nimmt sie ihre Follower mit in ein karges Wohnheim. Zeitgleich erzählt in einer anderen Provinz, Tausende Kilometer entfernt, ein junger Mann mit breitem Grinsen, dass er in der Schule gemobbt wurde und das Haus seit langem zum ersten Mal verlässt. Währenddessen spaziert er durch eine dystopische Landschaft mit abgerissenen Häusern, im Hintergrund blitzen die schmalen Türme einer neuen Wohnsiedlung auf. Seine Nachbarn seien alle schon umgesiedelt worden, erzählt er. Die Kraft des Films liegt nicht so sehr in dem, was die einzelnen Streamer zu sagen haben, sondern in den Kontexten, die sich mit ihnen offenbaren. In einem Land, in dem Politik auf Vergangenheitsauslöschung fußt und der Staat alles dafür tut, dass die Bevölkerung in kontextlosen und damit apolitischen Teilöffentlichkeiten verharrt, ist Present.Perfect. der gelungene Versuch, durch die Collage eine authentische Erzählung der chinesischen Gegenwart zu etablieren.

In der C/O-Galerie Berlin wählt der Fotograf Ren Hang mit seinen Bildern von nackten Körpern den entgegengesetzten Weg. Er konzentriert sich auf die Menschen in seinem unmittelbaren Pekinger Umfeld. Es sind die Körper seiner Freunde, die er arrangiert. Einige werden zu humorvollen Körperskulpturen, andere drücken ihre Sehnsucht und Verletzlichkeit aus. Hangs Arbeiten wurden in China immer wieder verboten, seine Social-Media-Accounts gesperrt. Zu provokativ seien die Fotografien. Ihre eigentliche Provokation liegt aber nicht im Nackten, sondern in der Konzentration auf das zutiefst Menschliche. Denn ähnlich wie die Livestreamer sind Hangs Körper auf der Suche. Es sind Menschen einer Generation, die sich nach Nähe und nach Zugehörigkeit sehnt und sie im Kollektiv einfach nicht findet. „Nicht in der Lage zu sein, das zu tun, was du willst, in deinem eigenen Land, das ist eine tragische Art, zu leben", sagt Hang in einem kurzen Film, der ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist. 2017 hat er sich mit 29 Jahren das Leben genommen. Im selben Jahr wurden auf Basis eines neuen Internet-Zensur-Gesetzes Tausende Livestreams verboten.

Present.Perfect. läuft am 15. Februar beim chinesischen Filmfest in Leipzig

Die Ausstellung Love, Ren Hang ist noch bis zum 29. Februar bei C/O in Berlin zu sehen

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