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Nicht in Berlin - So schön hyggelig

Nicht in Berlin In Kopenhagen stehen Kinderwagen oft unbeaufsichtigt vor Cafés - samt Insassen

Foto: Dean Pictures/Imago

Zu echter Berühmtheit hat es Annette Sørensen 1997 in New York geschafft. Die New York Times widmete der dänischen Schauspielerin gleich mehrere Schlagzeilen - aber nicht für ihre Leistungen in der dänischen Fernsehserie Strisser på Samsø. Zugetragen hatte sich Folgendes: Während Frau Sørensen in einem Restaurant im East Village zu Abend aß, ließ sie ihre 14 Monate alte Tochter im Kinderwagen vor dem Restaurant schlafen. Besorgte Passanten alarmierten die Polizei, Frau Sørensen wurde für 48 Stunden in Gewahrsam genommen und das 14 Monate alte Baby für zwei Tage in die Obhut eines Kinderheims gegeben.

Was einst in den USA zu einem Fall für die Staatsanwaltschaft wurde, gehört in Kopenhagen heute zum Alltag. Wer Dänen auf das Phänomen anspricht, Kinderwagen samt Insassen stundenlang vor Cafés und Restaurants stehen zu lassen, erntet vor allem eins: Unverständnis für die Frage. „Warum nicht?", lautet die gängige Gegenfrage, frische Luft sei gesund. Besucht man Freunde zu Hause, ist es üblich, die Kinder im Innenhof schlafen zu lassen, anstatt sie mit in die Wohnung zu schleppen. „Dann macht man einfach das Fenster auf, um zu hören, wann eines der Kinder wach wird", sagt Katrine, die vor zehn Monaten Mutter von Zwillingen geworden ist, und schiebt nach: „Ich habe mehr Angst, dass der Wagen geklaut wird, wenn er leer ist, als wenn die Kinder drin schlafen."

Eine Art Diebstahlsicherung

Die Vorstellung, in Berliner Hinterhöfen auf eine Armada von Kinderwagen mit schlafenden Babys zu treffen, bleibt zwar ziemlich abstrakt, wäre demnach aber ein durchaus probates Mittel gegen den grassierenden Kinderwagendiebstahl. Auch die Industrie ist auf diese Eigentümlichkeit der Dänen aufmerksam geworden. Ida ist 26, hat gerade ihr erstes Kind bekommen und schwärmt von Nabby, einem Babyphone, das sich mit ihrem Smartphone verbinden lässt. Das Besondere an Nabby: Es verfügt über ein integriertes Thermometer. Kühlt die Temperatur im Kinderwagen ab, schlägt es Alarm. Da muss allerdings einiges passieren, dänische Babys sind robust, am besten schläft es sich nämlich, lautet die nordische Legende, bei Temperaturen um den Gefrierpunkt, denn dann wird es hyggelig, also richtig gemütlich.

Das Phänomen der unbeaufsichtigt schlafenden Babys und Kleinkinder lässt sich nicht nur auf eine nationale Frischluftbegeisterung zurückführen. Es handelt sich dabei um eine Manifestation dessen, was in Dänemark unter dem Begriff Danskhed, was so viel bedeutet wie „dänisch sein", seit Jahrhunderten verhandelt wird. Die Kinderwagen zeigen zunächst eins: Wenn es um Erziehung geht, sind die Dänen ziemlich entspannt. 2015 wurden sie zum dritten Mal in Folge von der UNO zur glücklichsten Nation der Welt gekürt.

Als Erklärung für die statistisch attestierte Zufriedenheit wird unter anderem das dänische Selbstverständnis zur Vereinbarkeit von Arbeit und Familie herangezogen. Anders als im Nachbarland Schweden, wo das Sozialsystem darauf bedacht ist, jede Art von Abhängigkeiten zwischen Individuen zu mindern, gibt es in Dänemark eine stärkere Hinwendung zur Familie. Dänen, das zeigen zahlreiche Studien, stufen Familienleben und Freizeit höher ein als ihre Arbeit. Und so sind die Kinderwagen eben auch Indiz für den selbstverständlichen Einklang von Alltag und Kind.

Aufgezwungener Service

Diese Selbstverständlichkeit gerät jedoch unter Beschuss. In Dänemark spart der Staat Stellen in der Kinderbetreuung ein, Betreuer sind notorisch unterbezahlt. Auch der öffentliche Raum verändert sich zusehends in eine Richtung, die Sofie, Architektin und Mutter eines Sohns, bedenklich findet: „Auf einmal gibt es Orte, die speziell für Mütter und Kinder designt sind, extra Buggybereiche oder Orte zum Stillen. Ich finde das schwierig, so werden Mütter und Kinder aus dem öffentlichen Raum gedrängt. Einkaufszentren und Caféketten haben Kinder und Mütter als Business identifiziert und zwingen uns nun diesen Service auf." Und nicht nur das.

Die US-Amerikanisierung des öffentlichen Lebens spiegelt sich auch in der Architektur wider: „In Dänemark war man immer darauf bedacht, nah am Boden und nah an den Menschen zu sein", sagt Sofie, „es gab keine Hochhäuser, und statt eines riesigen öffentlichen Platzes würde man eher drei kleine in enger Umgebung planen." Wolkenkratzer, verspiegelte Fassaden und Shoppingmalls halten Einzug in dänische Innenstädte und befördern eine großstädtische Anonymität, die in vielen europäischen Metropolen bereits Normalität ist. In Dänemark ist das neu: „Zwischen den Bewohnern wird eine Distanz erzeugt", gibt Sofie zu bedenken und trifft damit ins Herz einer Debatte, mit der sich der Soziologe Peter Gundelach von der Universität Kopenhagen seit über 30 Jahren beschäftigt.

Gundelach forscht zum dänischen Wertekanon und kollektiven Selbstverständnis und nennt als einen der wichtigen Grundpfeiler der dänischen Gesellschaft Vertrauen. „Ich bin überzeugt, dass die Menschen sich untereinander nach wie vor vertrauen, aber das Vertrauen in die Politik und die Institutionen hat abgenommen, und das ist sehr untypisch für uns." Die Frage „Was heißt es, dänisch zu sein?" wird in dem skandinavischen Land von jeher diskutiert. Es ist eine Debatte, die bisher im Licht positiver Eigenschaften geführt wurde - bis zu den letztjährigen Parlamentswahlen.

Mit dem Wiedererstarken der Rechtspopulisten ist der Diskurs politisch instrumentalisiert worden. Vertrauen, Respekt und Toleranz drohen in den Hintergrund zu geraten. Stattdessen betont die rechtspopulistische Folkeparti Gleichheit und Gemeinsamkeit und kehrt die dänische Egalität in eine perfide Abschottungsrhetorik um. Es bleibt abzuwarten, ob die Dänen es schaffen, sich ihre Offenheit und Toleranz auch in Anbetracht einer vielfältigen Gesellschaft zu bewahren. Wie entspannt man im Jahre 2016 Familie, Kinder und Alltag vereinen kann, haben sie bereits bewiesen.

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