Sein Verhältnis zur deutschen Gesellschaft musste Kien Nghi Ha nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen fundamental überdenken. Vor 30 Jahren, vom 22. bis zum 26. August 1992, griffen Rechte die Zentrale Aufnahmestelle (ZAST) für Asylsuchende und eine Unterkunft für Geflüchtete an, Tausende Zuschauer begafften die Gewalt wie ein Spektakel, die Polizei zog sich zurück und überließ die Bewohner des Hauses ihrem Schicksal. Im Interview erklärt der Politikwissenschaftler, warum es unmöglich ist, sich in eine rassistische Gesellschaft zu integrieren, und warum Rostock-Lichtenhagen für ihn ein Zivilisationsbruch war.
Berliner Zeitung: Herr Ha, in diesen Tagen jährt sich das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen zum 30. Mal. Was beschäftigt Sie in dieser Zeit?
Kien Nghi Ha: Es ist genau die Situation eingetreten, die ich vor zehn
Jahren beschrieben habe. Ich hoffe, dass Sie mir diesen Begriff
verzeihen, aber der Medienzirkus hat seinen Höhepunkt erreicht. Das
merke ich an meiner Arbeitszeit. Ich hetze von einem Termin zum
nächsten. Es ist schwer, sich der Situation zu entziehen.
Sie beziehen sich auf einen Text, in dem Sie 2012 schrieben, Rostock würde alle zehn Jahre aus der „kollektiven Versenkung der deutschen Geschichte" hervorgeholt werden, um nach dieser „Pflichtübung" wieder abzutauchen. Meinen Sie das mit Medienzirkus?
Ja, es ist ein zweischneidiges Schwert. Es ist vollkommen gerechtfertigt, sich zu Jahrestagen von Ereignissen wie dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen besonders zu erinnern und zu erklären, was damals passiert ist. Das ist wichtige Arbeit, die Medien und Bildungsinstitutionen leisten. Doch es besteht die Gefahr, dass solche Jahrestage zum medialen Spektakel verkommen. Diese Aufmerksamkeit ist zwar sehr konzentriert, verpufft dann aber schnell wieder. Das verhindert echte Erinnerung und Aufklärung.
Nun wird Rostock-Lichtenhagen aber doch von vielen - auch von Ihnen -
als Einschnitt in der Geschichte bezeichnet. Darauf muss man doch Bezug
nehmen.
Es ist wichtig, zu sehen, dass Rostock-Lichtenhagen eine herausragende Bedeutung hatte. Es war das einzige rassistische Großereignis, das live im Fernsehen übertragen wurde. Der Zugang der Öffentlichkeit war viel größer. Und es war leider auch das größte Pogrom in der Nachkriegszeit. Doch genau deshalb ist es wichtig, wie man Rostock-Lichtenhagen historisch und politisch einordnet. Es war nicht das einzige rassistische Großereignis in den 1990er-Jahren. Davor gab es 1991 die Angriffe in Hoyerswerda und Mannheim-Schönau. Danach kamen Mölln, Solingen, die NSU-Morde und Hanau. Rostock-Lichtenhagen ist mit den anderen rassistischen Ereignissen verbunden. Ohne die rassistische Gewalt vorher und nachher könnte man Rostock-Lichtenhagen überhaupt nicht verstehen.
Sie waren zum Zeitpunkt des Pogroms 20 Jahre alt und studierten in Berlin. Wie haben Sie damals die Gewalt mitbekommen?
Ich habe es im Fernsehen gesehen. Das hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Weil es gezeigt hat, was es heißt, als asiatisch aussehender Mensch in Deutschland zu leben, welche Grenzen der Zugehörigkeit es gibt. Dazu muss ich sagen, dass ich andere Erfahrungen, eine andere Geschichte habe als die Vertragsarbeiter:innen und ihre Angehörigen, die in der DDR lebten. Für mich war das, was 1992 in Rostock-Lichtenhagen passierte, ein Zivilisationsbruch.
Sie meinen, eine Erschütterung Ihres Vertrauens in so etwas wie Menschlichkeit?
Der August 1992 war ein Einschnitt in meiner Wahrnehmung der deutschen
Gesellschaft. Ich habe gesehen, dass sich Institutionen nicht dafür
einsetzen, grundlegende Menschenrechte zu verteidigen, nicht einmal
dafür gesorgt haben, dass die Polizei gut genug aufgestellt war, um das
Sonnenblumenhaus zu verteidigen. Ich habe mich gefragt: Wie kann es
sein, dass
in Deutschland ein brennendes Haus mit mehr als hundert Menschen drin einem rassistischen Mob überlassen wird,
die Polizei sich zurückzieht und der Feuerwehr nicht den Weg frei
macht, um diesen Brand zu löschen? Das war surreal. Ich musste mein
Verhältnis zu Deutschland, also zu der Gesellschaft, in der ich lebe,
grundsätzlich überdenken.
Was hat sich für Sie durch dieses Umdenken geändert?
Ich bin in den 80er-Jahren im Märkischen Viertel in Berlin aufgewachsen.
Es war mein Wunsch, mich so gut wie möglich zu integrieren. In vielen
vietnamesischen und chinesischen Familien heißt das, über den
Bildungsweg zu gehen. Ich habe Abitur gemacht und als sich die Einheit
anbahnte am Otto-Suhr-Institut Politikwissenschaft studiert. Die
Perspektive der Integration war aber nach August 1992 nur noch eine
Lüge. Das heißt, so wie Integration oft verstanden wird, also dass
migrierte Menschen in Deutschland ankommen, sich anpassen, ohne im Kern
die Gesellschaft zu verändern. Aber wie kann man sich an rassistische
Gewalt anpassen? Das ist unmöglich. Deshalb liegt mein Fokus heute
darauf, Rassismuskritik zu üben. Und das hat auch mit der
Kolonialgeschichte zu tun.
Rechte Gewalt wurde als ostdeutsches Phänomen lange Zeit mit den Effekten der Wende erklärt. Sie führen die Ereignisse in Rostock auf die Kolonialgeschichte zurück?
Wenn wir über die Ursachen von Rostock-Lichtenhagen sprechen, gibt es
zwei Zeitebenen. Die eine ist die Wiedervereinigung und die sozialen
Krisen, die in der Folge entstanden sind. Die tiefer liegende Ursache
bestand darin, dass wir in den 1990er-Jahren keinen Begriff davon
hatten, dass in Deutschland rassistische Gesellschaftsverhältnisse
bestehen. An die Aufarbeitung des Kolonialismus war gar nicht zu denken.
Weil es kein Problembewusstsein darüber gab.
Gibt es so ein Problembewusstsein aus Ihrer Sicht heute, 30 Jahre später?
Heute
erkennen wir an, dass Rassismus nicht nur an den Rändern, sondern in den Strukturen und den Institutionen vorhanden ist. Das ist ein großer gesellschaftlicher Modernisierungsprozess.
Würden Sie Ihre Kritik an der medialen Aufmerksamkeit von vor zehn Jahren jetzt also anpassen?
In den letzten zehn Jahren ist viel passiert, doch große Teile der
Kritik sind nach wie vor aktuell. Gestern wurde in einer
Nachrichtensendung von „fremdenfeindlichen Ausschreitungen" gesprochen.
Wenn man Rostock-Lichtenhagen gedenkt, muss man des Pogroms in
Rostock-Lichtenhagen gedenken und nicht Krawallen oder Ausschreitungen.
Diese Begriffe verfälschen die Ereignisse. Die Bedingungen eines Pogroms
waren erfüllt: Eine dominante Gruppe hat eine Minderheit angegriffen.
Und gesellschaftliche Institutionen haben diese Angriffe toleriert, wenn
nicht sogar unterstützt. Wir reproduzieren Rassismus, wenn wir dieses
Pogrom als Krawall kleinreden.
Im Aufruf zur offiziellen Gedenkveranstaltung am Donnerstag in Rostock wird Steffen Bockhahn, der zweite Stellvertreter des Rostocker Oberbürgermeisters, zitiert: „Die Aufarbeitung ist ein permanenter Auftrag für unsere Stadt. Das Pogrom ist geschehen, und daher kann es auch wieder geschehen. Dies zu verhindern, bleibt unsere Aufgabe!"
Eine solche Aussage ist ein positives Zeichen. Bis dato hat die Stadt
das Ereignis nicht als Pogrom bezeichnet. Außerdem deutet die Aussage
an, dass die Stadt die Aufarbeitung des Pogroms als permanente Aufgabe
versteht. Ich wüsste aber gern, welche Ressourcen die Stadt dieser
Aufgabe zur Verfügung stellt. Seit 2017 gibt es ein
Dokumentationszentrum, das aber von der Stadt nur mit einer halben
Personalstelle finanziert wird. Das ist gut, aber bescheiden. Wenn die
Stadt diese Aufgabe ernst nimmt, muss sie auch bereit sein, sie
materiell besser auszustatten.
Eine Kritik an der Erinnerung war in der Vergangenheit die Überrepräsentation der Täterperspektive. Könnte das nicht auch der Versuch gewesen sein, eine Erklärung für die Ereignisse zu finden?
Die Gefahr ist, die dominante weiße Perspektive wieder ins Zentrum zu stellen. Ein Beispiel ist der Kinofilm „Wir sind jung. Wir sind stark"
von Burhan Qurbani. Darin wird das Pogrom zu einer Kulisse, vor der sich der Selbstfindungsprozesses einer weißen Clique abspielt.
Der weiße Blick und der Rassismus dieser Clique werden reproduziert, sie sind aktiv, sie haben eine Meinung, sie sind die Subjekte. Die Angegriffenen sind nur Objekte, Schablonen, man weiß nicht, was sie gedacht haben. Die vietnamesische Community im Sonnenblumenhaus spielt für die Geschichte in diesem Film eigentlich keine Rolle.
Wie wird das Trauma in den Generationen der Betroffenen verarbeitet?
Es gibt kulturelle Codes, etwa dass man in südostasiatischen Ländern über unangenehme Themen wenig spricht. Aber in diesem Fall ist das vermischt mit Umständen, die mit der Situation in Deutschland zu tun haben. Nach dem Pogrom gab es für die Opfer keine Entschädigung. Ein großer Teil wurde abgeschoben. Es kam die nächste Herausforderung: für das eigene Bleiberecht zu kämpfen. Dieser Kampf war sehr, sehr anstrengend. Ein Abschiebegrund war zum Beispiel Arbeitslosigkeit. Damit waren die Betroffenen ausgelastet. Sie hatten nicht die Zeit, zu verarbeiten, was da passiert ist. Außerdem gibt es die Angst, als Nestbeschmutzer zu gelten. Betroffene müssen in diesem Rahmen kritische Dinge erzählen, die möglicherweise die Nachbarn oder die Stadtverwaltung ärgern. Es ist oft selbst im Familienkreis bis heute nicht möglich, über die Ereignisse zu reden. Das zeigt, wie tief die Wunde ist.
Ist es deshalb schwierig, Zeitzeugen zu finden?
Das hängt damit zusammen, dass viele nach wie vor nicht wirklich in Deutschland angekommen sind. Die Parole, die das Pogrom geprägt hat, war „Ausländer raus". So etwas klingt nach. Viele haben immer noch das Gefühl, hier jederzeit angreifbar zu sein. Da schließt sich der Kreis aus Geschichte und Gegenwart.
Vielen Dank für das Gespräch.
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