Der Roman spielt in den 1930er Jahren in einer kleinen Stadt in den Südstaaten der USA. Erzählt wird aus der Perspektive eines beinahe neunjährigen Mädchens, der wilden Jean Louise, genannt Scout, Tochter des Anwalts Atticus Finch. Es herrschen wirtschaftliche Depression und alltäglicher Rassismus. Scout, ihr Bruder Jem und der Nachbarsjunge Dill - übrigens im wahren Leben der spätere Schriftsteller Truman Capote, der tatsächlich ein Kindheitsfreund von Harper Lee war - werden Zeugen, wie Scouts Vater Atticus vor Gericht einen Schwarzen verteidigt, der zu Unrecht angeklagt wurde, eine weisse Frau vergewaltigt zu haben. Gregory Peck hat ihn später im Film gespielt, diesen aufrechten Anwalt, der sich ganz allein einem mordlustigen Lynchmob entgegenstellt. Die Figur des Atticus gilt als typischer einsamer amerikanischer Held, Generationen von Leserinnen und Lesern haben ihn geliebt. Ausgerechnet dieses Idol schubst Harper Lee mit dem jetzt erscheinenden Buch vom Sockel.
Vorgänger und Fortsetzung zugleich: "Gehe hin, stelle einen Wächter"Das neue Buch dreht sich um dieselben Figuren, spielt aber knapp 20 Jahre später, so dass dieser Vorgängerroman sich zwangsläufig wie eine Fortsetzung liest. Und da kehrt Jean Louise, die nicht mehr Scout genannt wird, in ihre Heimatstadt zurück und muss angeekelt mitansehen, wie sich ihr Vater Atticus vehement gegen die schwarze Bürgerrechtsbewegung wehrt und dagegen, dass die Rassentrennung in allen Bereichen aufgehoben wird.
Schock bei Publikum und Presse"Dramatische Wandlung bei Atticus" (Focus) oder "Ein Volksheld ist plötzlich Rassist" (Süddeutsche Zeitung) lauten die Schlagzeilen. Aber das stimmt so nicht. Der Volksheld, also Atticus, hat sich nicht grundsätzlich gewandelt. Im Gegenteil: Er war noch nie kein Rassist. Dafür öffnet uns dieses Buch die Augen. Atticus war und ist eher ein Salonliberaler, der zwar für Gerechtigkeit im Gerichtssaal eintritt und seine guten Manieren auch Schwarzen gegenüber zeigt. Aber doch bitte alles innerhalb der existierenden Ordnung: die da unten, wir hier oben. Hat er sich wirklich für gleiche Rechte von Schwarzen und Weissen eingesetzt? Nein. Das haben wir uns alle nur so vorgestellt und ihn verherrlicht, weil wir ihn mit den Augen der kleinen Scout sahen. Aber in diesem neuen Buch wird Scout erwachsen und lernt, dass sie blinde Flecken hatte. Wenn's hart auf hart kommt, sprich wenn weisse und schwarze Kinder zusammen zur Schule gehen sollen, geht Atticus auf die Barrikaden und tut sich mit den schlimmsten Rassisten zusammen. Wir haben die Doppelmoral des moralischen Superhelden und seinen versteckten Rassismus bisher nur übersehen.
Fazit: Desillusionierend, aber wichtigJa, "Gehe hin, stelle einen Wächter" ist ein desillusionierendes Buch. Wahrhaftig keine Wohlfühlgeschichte wie "Wer die Nachtigall stört", und als Roman fällt es auch in der Form und im Spannungsbogen erheblich dagegen ab. Aber es ist heute - vor dem Hintergrund der Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA oder auch der Ausländerfeindlichkeit und Pegida hier bei uns - das aktuellere Buch. Weil es von der Heuchelei der angesehenen Bürger handelt, die krassen, tödlichen Rassismus erst möglich machen. Deshalb: Ja, lesenswert! Wenn auch schmerzhaft.
Harper Lee Gehe hin, stelle einen Wächter Aus dem Englischen von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann Verlag: DVA ISBN: 978-3-421-04719-9 Preis: 19,99 Euro