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Der Ruf der Pflicht - Über die Grenzen der Pressefreiheit in Indien

In ihrer Heimat Indien schrieb sie über Korruption und Frauenrechte - und bezahlte für ihre Recherchen beinahe mit dem Leben. Aufgeben ist für die Journalistin Tongam Rina trotzdem keine Option. Einblicke in ein Land, in dem die Pressefreiheit zwar in der Verfassung verankert ist, kritischer Journalismus jedoch lebensgefährlich sein kann.


Der 15. Juli 2012 hat sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt: An diesem Tag stand er plötzlich in der Redaktion - der junge Mann, der, ohne ein Wort zu sagen, einfach abdrückte und ihr in Rücken und Unterleib schoss. Wenn Tongam Rina heute über das Attentat spricht, richtet sie den Blick zu Boden und lächelt entschuldigend. Die zierliche junge Frau wirkt ruhig und zurückhaltend, Wut oder Verbitterung sind ihr nicht anzumerken.

Bis heute ist nicht sicher, wer hinter dem Anschlag steckt. Rina selbst kann nur mutmaßen. Zu vielen Leuten ist sie während ihrer Arbeit bei der Arunachal Times auf die Füße getreten. Die Redaktion hat ihren Sitz in Itangar, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Arunachal Pradesh. Das abgelegene Randgebiet an der Grenze zu Burma und Butan gilt heute als eine Art Sperrzone mit Sonderstatus. Eine Vielzahl ethnischer Minderheiten lebt in der ländlichen Region, demokratische Strukturen in Politik und Verwaltung haben sich nie entwickelt. Wer hier etwas erreichen will, wählt den Weg der Korruption und Erpressung. Die Menschen leben in Armut, es mangelt an Bildung und Grundversorgung. Trotz der Missstände gibt es kaum kritischen Journalismus, Medien werden höchstens zur Unterhaltung genutzt. Tongam Rina aber kann ihre Augen vor dem Elend nicht verschließen. Also schreibt sie.


Ihre erste große Story ist eine Gerichtsreportage: Bis ins Kleinste recherchiert Rina, wie die lokale politische Elite Vetternwirtschaft betreibt und Verwandte in lukrative Posten befördert. Der Artikel schlägt hohe Wellen, erste Drohbriefe gehen in der Redaktion ein. Eines Tages wird eingebrochen, Rina findet ihr Büro verwüstet vor, ihr Computer ist zerstört. Doch sie macht weiter: Sie berichtet über die Umweltzerstörung durch ein Staudammprojekt, legt die Unterschlagung von Sozialleistungen durch Lokalpolitiker, Beamte und Unternehmen offen - die Hilfslieferungen aus einem indischen Sozialprogramm landen auf dem Schwarzmarkt. Wenn Rina durchs Land reist und Informanten trifft, versucht sie „nicht gesehen zu werden", sagt sie - zumal sie als Frau ohnehin ständig Repressionen und Drangsalierungen ausgesetzt sei. Interviews finden ausschließlich an geheimen Treffpunkten statt, Quellenschutz gewinnt eine völlig neue Bedeutung.

Ab 2007 nehmen die Einschüchterungsversuche zu. Einmal erhält sie einen Briefumschlag, der Patronenhülsen enthält. Am nächsten Tag liegt eine Schusswaffe auf dem Schreibtisch. Ans Aufhören denkt Tongam Rina nicht. Sie verstehe sich selbst als Aktivistin, die gegen Ungerechtigkeiten vorgehen müsse. „Natürlich war ich eingeschüchtert und hatte Angst, untätig herumzusitzen kam aber nie in Frage", sagt sie.


Die Lage in Arunachal Pradesh ist speziell, doch auch im Rest von Indien ist kritischer Journalismus nicht gern gesehen. Indien gilt zwar als bevölkerungsreichste Demokratie der Welt und weist aufgrund der vielen soziokulturellen Unterschiede eine vielfältige Medienlandschaft auf. Doch der Schein trügt: „Reporter ohne Grenzen" zufolge wurden allein im Jahr 2013 mindestens neun Journalisten in Indien ermordet. Die Gewalt geht von Mafiagruppen und Anhängern politischer Parteien, aber auch von Polizei und Armee selbst aus und wird nur selten verfolgt. Der Journalist Andreas Hilmer hat mehrere Auslandsreportagen, u.a. für GEO und die Zeit, über das Land verfasst. „Investigativ arbeitende Journalisten sind dort echte Helden", sagt er. Auch Ausländer könnten in Indien nur eingeschränkt recherchieren: „Wenn Reporter über weiche Themen schreiben, die das Land in ein gutes Licht rücken, genießen sie Narrenfreiheit. Doch sobald es um kritische, politische Themen geht, wird es schwierig", so Hilmer. Dabei werde die Pressefreiheit nicht immer durch direkte Gewalt, sondern oft auf subtile Weise eingeschränkt - etwa, indem bürokratische Hürden oder technische Probleme vorgeschoben werden. „Dann werden Webseiten einfach abgeschaltet oder der Papiernachschub für Druckereien gestoppt", bestätigt Tongam Rina. Und für konfliktreiche Regionen wird die Informationsfreiheit einfach ganz eingestellt. So wie in Kashmir: Aus Angst vor Bürgerprotesten verhängte die indische Regierung dort am 9. Februar ein weitläufiges Nachrichtenverbot auf unbestimmte Zeit.


Im Jahr 2013 kam Tongam Rina mit einem Stipendium der Hamburger Stiftung für politische Verfolgung nach Deutschland. Ein Jahr lang hat sie sich vom Attentat erholt, nun ist die Zeit im Exil vorbei. Seit März 2014 hat Rina ihre Arbeit bei der Arunachal Times wieder aufgenommen. Dort will sie über die indischen Parlamentswahlen im Mai berichten und weiter kritisch bleiben. „Was ich angefangen habe, bringe ich auch zu Ende", sagt die Journalistin lächelnd. Und fügt noch hinzu: „Andere halten diese Einstellung vielleicht für Sturheit, ich nenne es den Ruf der Pflicht."


Die indische Journalistin Tongam Rina war am 26. Februar 2014 im „KörberForum" in Hamburg zu Gast und sprach dort über ihre eigenen Erlebnisse und die schwierige Arbeitssituation von Journalisten in Indien. 
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