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„Das ist einfach so passiert"

Carla Reemtsma ist neben Luisa Neubauer das bekannteste Gesicht der deutschen Fridays-for-Future-Bewegung. Sie hat sich mit ihrer besonnenen Art und leisen Tönen Respekt verschafft.


Zum Video-Interview ist Carla Reemtsma in ihrem alten Kinderzimmer, in ihrem Elternhaus in Berlin. Sie hat vor Kurzem an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ihren Bachelor in Politik und Wirtschaft abgeschlossen. Demnächst zieht sie mit einer Freundin zusammen und arbeitet aktuell als Werkstudentin in Teilzeit bei einer Beratungsfirma, die Kommunen bei der Verkehrswende unterstützt. „Ich kann mir nicht vorstellen, unter Corona-Bedingungen ein Studium zu beginnen", sagt die 1998 in Berlin geborene Klimaschutzaktivistin.

Carla Reemtsma ist eine der bekanntesten Aktivistinnen der Fridays-for-Future-Bewegung in Deutschland, der sie seit Januar 2019 angehört. Erstaunlich. Denn lange Zeit gab es da nur eine, ihre Cousine Luisa Neubauer. Sie war das Gesicht der Bewegung, wurde auch gerne die „deutsche Greta Thunberg" genannt. Doch Reemtsma schaffte es in kürzester Zeit, fast vergleichbar viel Popularität zu gewinnen. Vor allem hat sie es in den vergangenen Monaten, in denen das öffentliche Leben und auch die Proteste auf der Straße lahmgelegt waren, geschafft, sich zu einer gefragten Gesprächspartnerin für Interviews und Diskussionsrunden zu mausern.

Reemtsma ist als Einzelkind in Berlin, im beschaulichen Bezirk Steglitz-Zehlendorf, aufgewachsen. Ihr Vater ist Jurist, ihre Mutter Kauffrau. Reemtsma war Schulsprecherin, aber ansonsten zu Schulzeiten nicht politisch sehr aktiv, sagt sie. Ein bisschen habe ihre Großmutter sie geprägt, die in der Umweltbewegung aktiv war. Und zu Hause habe man zumindest über Politik diskutiert. Aber erst im Studium habe sie sich bewusst mit Klimaschutz beschäftigt. Sie hat festgestellt, dass man durch das eigene Konsumverhalten ein Stück weit dazu beitragen kann, den CO2-Ausstoß zu verringern. Aber eben auch nur ein Stück weit: „Wenn man seinen eigenen Haushalt führt, merkt man, dass man vernünftig produzierte Lebensmittel kaufen, sich vegetarisch ernähren und einen Vertrag bei einem Ökostrom-Anbieter abschließen kann. Aber dann stellt man fest: Moment mal, was macht das für einen Unterschied, wenn die Uni, die man besucht, immer noch Kohlestrom bezieht?" Reemtsma engagierte sich bei „Fossil free", einer Organisation, die über lokale Gruppen versucht, Städte und Gemeinden dazu zu bewegen, auf Strom aus fossilen Energieträgern zu verzichten und Aktien von Unternehmen der Kohle-, Öl- und Gasindustrie zu verkaufen.

Aber erst die Rede von Greta Thunberg auf dem UN-Klimagipfel in Kattowitz habe sie dazu gebracht, zur Aktivistin zu werden, so Reemtsma: „Danach wusste ich, dass ich was tun muss." Sie baute eine Aktionsgruppe in Münster auf, organisierte bundesweit die Pressearbeit. Die Protestbewegung wuchs in Windeseile und Reemtsma avancierte zu einer der Persönlichkeiten, die der Bewegung ein Gesicht geben. Warum das so kam, dazu sagt sie nur: „Keine Ahnung, das ist einfach so passiert."

Viele schreiben den Erfolg ihrer Eloquenz und Redegewandtheit zu, sicherlich zu Recht. Aber es gibt noch andere Faktoren: Reemtsma ist nicht pathetisch, sie ist nicht laut und polternd, sondern eher leise und zurückhaltend. Ihre ersten TV-Auftritte, in denen sie sich in Talkshows harten Kalibern wie dem CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak stellte und ruhig, aber dezidiert Kontra gab, haben ihr viel Respekt eingebracht. Sie antwortet Schülerreportern, diskutiert eineinhalb Stunden lang mit dem Hamburger Bürgermeister darüber, was die Hansestadt zum Einhalten der Klimaziele beitragen kann, bestreitet mit dem Philosophen Richard David Precht eine Sendung über den Klimawandel. Als es bei der Besetzung des Dannenröder Forstes hoch herging, stellte sie sich der Diskussion mit dem Landrat Winfried Becker, der sich jahrzehntelang für den Ausbau der A49 eingesetzt hat. Das hätte gut eskalieren können, ist es aber nicht, auch dank Reemtsmas ruhiger Art, die sich auch dadurch auszeichnet, dass sie ihre Gesprächspartner nie unterbricht. In allen Gesprächen wiederholt sie geduldig und besonnen die Forderungen der Fridays-for-Future-Aktivisten: „Die Klimaziele müssen eingehalten werden. Der Bau von Autobahnen ist dafür nicht geeignet. Die Politik muss in die Verantwortung genommen werden." Mit diesen Aktivitäten hält sie auch in Corona-Zeiten die Bewegung lebendig und hat ihr sogar vielleicht eine neue Ausrichtung gegeben - weniger lauter Protest, mehr Dialog.

Ein weiterer Punkt, der sie vielleicht konsensfähiger und ein Stück weit auch unangreifbarer macht als andere Aktivistinnen und Aktivisten, ist ihr Pragmatismus. Nicht selten wird den Aktivisten vorgeworfen, hypermoralisch zu argumentieren und diesen Ansprüchen selber nicht gerecht zu werden. So erntete Aktivistin Neubauer für Instagram-Fotos, die sie in fernen Ländern zeigen, einen Shitstorm. Reemtsma sagt Sätze wie: „Menschen, die auf dem Land leben, ohne Bahnanbindung, müssen ein Auto nutzen. Wenn meine Oma Suppe mit Rindfleisch kocht, dann mache ich keinen Aufstand, sondern esse die Suppe. Wenn man zu fünft im Auto in den Urlaub fährt, ist das okay." Mantrahaft wiederholt sie aber die Forderung an die Politik: „Wir müssen das 1,5-Grad-Ziel einhalten. Deutschland muss bis 2035 klimaneutral werden. Füllt endlich die Klimaziele mit konkreten Maßnahmen."

Wenn die Corona-Krise vorbei ist, will sie vielleicht wieder studieren. Das sei aber nicht so einfach, weil es nicht allzu viele Master-Studiengänge gebe, die sie mit ihrem Bachelor belegen könne. Vor allem aber will sie weiter Aktivistin bleiben: „Ich weiß, dass das nicht in allen Lebensphasen einfach ist, aber es gibt genug Vorbilder, die ihr ganzes Leben lang Aktivisten sind." Einige ihrer Fridays-for-Future-Mitstreiter werden bei den kommenden Bundestagswahlen für die Grünen antreten, für sie kommt der Wechsel in die Politik nicht infrage: „Es braucht den Druck von der Straße, um einen substanziellen Wandel herbeizuführen. Es sind nicht die Politiker, die die Gesellschaft dazu bringen, Klimaschutz als relevant zu betrachten. Es sind die Menschen auf der Straße, die die Gesellschaft politisieren." //


„Ich habe einen Bachelor in Wirtschaft und Politik an der Universität Münster gemacht. Ich habe mich bewusst für diesen Studiengang und gegen einen Zweifach-Bachelor entschieden, weil ich mir erwünscht hatte, dass in dem Studiengang tatsächlich beide Fächer miteinander verknüpft werden. Im angelsächsischen Raum ist das ja völlig normal, dass man politics, economics and philosophy studiert. Leider war meine Studienerfahrung in der Hinsicht doch ziemlich ernüchternd, Politik und Wirtschaft, das sind halt zwei verschiedene Fakultäten, die kaum etwas miteinander zu tun haben, Verknüpfungen gab es also wenig. In den Politikwissenschaften gibt es verschiedene Strömungen, mit denen man sich im Studium beschäftigt. In den Wirtschaftswissenschaften werden hauptsächlich die neoklassischen Theorien behandelt. Wir hatten mal eine absurde Situation in einem Seminar: Wir haben über mehrere Theorien gesprochen, die alle zu dem Schluss kommen, dass der Mindestlohn schlecht ist für die Wirtschaft. Eine Teilnehmerin hat gefragt, wie es dann sein kann, dass wir schon über ein Jahr den Mindestlohn haben und die Arbeitslosigkeit nicht angestiegen und nicht alles teuer geworden ist. Darauf wurde nicht eingegangen. Es wird immer so getan, als hätten die Wirtschaftswissenschaften nichts zu tun mit gesellschaftlichen Systemen. Gleichzeitig gibt es wenig wirtschaftswissenschaftliche Forschung zum Postwachstum und die Ergebnisse dieser Forschung werden noch weniger an den Hochschulen gelehrt. Es gibt zum Beispiel keine Theorien dazu, was mit dem Finanzmarkt passieren würde, hätten wir kein Wachstum mehr. Die fehlenden Verknüpfungen zwischen den den einzelnen Fächern werden der Komplexität unserer heutigen Welt nicht gerecht, vielleicht ist ihr Fehlen sogar mit ein Grund dafür, dass wir unsere heutigen Probleme nicht gelöst kriegen."


"Die Gesellschaft braucht die Wissenschaft, weil wir den komplexen Herausforderungen unserer Zeit am besten durch Erkenntnisgewinn und wissenschaftlich gestütztes Handeln begegnen können."


"Wissenschaftler sollten sich für die Gesellschaft engagieren, weil nur unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher Erkenntnisse unsere Gesellschaft angemessene Antworten auf die aktuellen Herausforderungen finden und sich weiterentwickeln kann."


"Das stört mich an Wissenschaftlern: Ich erlebe häufig, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehr in ihrem Fachgebiet und an der Uni bleiben, obwohl ihre Forschung für viele bereichernd und relevant wäre. Um das zu ändern, bräuchte es ein größeres Maß an Kommunikation auf Augenhöhe mit Bürgerinnen und Bürgern sowie aktives Einbringen in Debatten, sodass diese Erkenntnisse auch ihren Weg zu vielen finden."


"Ich bin gerne Umweltaktivistin, weil unsere Lebensweise schon heute zu katastrophalen Folgen für Millionen von Menschen im Globalen Süden führt und die Auswirkungen mit jedem Tag immer zerstörerischer werden."


"Das möchte ich im Rahmen meiner Aktivitäten noch erreichen: Das Ende des fossilen Kapitalismus."


"Wenn ich noch einmal vor der Wahl stünde, Klimaaktivistin zu werden, würde ich es definitiv wieder machen!"


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