Annette van den Bergh

Freie Autorin / Texterin, Berlin

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Buch

Helga Schuberts "JUDASFRAUEN"

Was die Welt im Innersten zusammenhält? Bei Helga Schubert zumindest scheint es der GEGENSATZ zu sein, das Paar, aus dem die Antipode besteht, die Polarität. Nicht aber, das sei betont, das Ganze als Einteilung in Schwarz und Weiß gedacht! Darin liegt die umwerfende Stärke dieser Erzählerin, dass sie den Grauton erkennt, diesen aber nach beiden Seiten hin verdichtet, damit im Grau das lichteste Licht und das dunkelste Dunkel erkennbar wird. Und am Ende (der Betrachtung?), so sehnt sie herbei, zeigt sich: "Alles gut".

Diese (aus tiefster Seele zu kommen scheinende) Herangehensweise an Lebensgeschichte(n), gepaart mit erzählerischem Können und souveränem Umgang mit literarischen Techniken (Montage), hat ihr nun (wie jeder weiß) den begehrten Bachmannpreis gebracht.

"Steh auf, Dir ist kein Knochen gebrochen" (Bachmann, "Das dreißigste Jahr") wurde zum "Vom Aufstehen", der Geschichte einer Tochter und der Geschichte einer Mutter. Letztere, dem Kind fast feindlich gegenüber stehend. Erstere liebend (wie Kinder das tun) und um die Liebe der Mutter buhlend. Erst die Erkenntnis, dass Liebe nur ist, wo sie ist. Und Liebe nicht sein muss, wenn sie nicht ist, lässt den Schmerz überwinden. Liebe ist da. Nur woanders. In den Armen eines Anderen. Das Kind (längst erwachsen) hat überlebt. Die Mutter bekommt, was sie sich von der Tochter schon lange gewünscht hat. Dass diese über sie schreibt. Die Gedanken sind frei. Sie schreibt der Mutter einen Liebes-Text, der auch von Grausamkeit sagt. Eine Ablehnung ist nicht hineingeschrieben. 
Dafür Annahme. Aus dem Grau blühen Blumen. 
Die heißen Gnade und Vergebung.

"Alles gut" kann nicht der letzte Satz sein, der unter den (vor über 30 Jahren publizierten)  "Fallgeschichten" der JUDASFRAUEN steht. Frauen sind nicht immer gut, liebevoll und loyal. 
Und die Frauen, um die es hier geht, sind es ausdrücklich nicht, da sie weibliche Denunziantinnen sind, die die Diktatur des dritten Reichs nutzten, um "ihre privaten Probleme zu lösen". Sei es wegen einer Belohnung durch materielle Erleichterung oder - häufiger - um sich am Liebhaber zu rächen, eine Demütigung zu sublimieren, den Neid nicht mehr spüren zu müssen oder sich endlich einmal mächtig zu fühlen. 

Ein Kapitel heißt "Judasfrauen". In dem Buch, das genau diese Überschrift übernimmt. 
In diesem Kapitel gibt es eine kleine Episode, in der die Autorin Helga Schubert mit ihrer Mutter über eben dieses Herzensprojekt streitet:
"Schreib über die Mütter, die damals mit Euch geflohen sind" sagt die Mutter.
"Warum sprichst Du eigentlich dauernd von Frauen?"

Antwort Helga Schubert:
"Mich stört die Frauenveredelung. ...
Wir sind auch böse und auch gefährlich, auf unsere Weise. Sobald ein Mensch auf einem Sockel steht, möchte ich den Sockel zerschlagen."

Nein, die Mutter wird mit keinem Wort belastet. Helga Schubert spürt hier noch dem Bösen der allgemeinen, weiblichen Seele nach. Die Haltung der Mutter, die sich selbst im Licht eines Klischees sonnt, in sich weder das Grau und erst recht nicht die Möglichkeit des Dunkels zu reflektieren vermag, ist dann auch durchweg (bis auf Eine) die Reaktion der Denunziantinnen auf ihre spätere Anklage vor Gericht.

Schuldig ist immer der Andere: Der Denunzierte, oder der Folterer oder der Henker. Oder die Verstrickung in unglückliche Umstände hinein. Helga Schubert, die sich mehrere Jahre mit den Gerichts-Akten (der, nach dem Krieg wegen "Verbrechens gegen die Menschlichkeit" angeklagten Verräterinnen) akribisch auseinandersetzte, sucht auch hier die Lösung eines Rätsels und findet oft nur die tatsächliche "Banalität des Bösen". Getragen und bestärkt freilich durch das Getriebe der Diktatur. 

Zudem: Kein Verrat ohne Vertrauen. Kein Täter ohne Opfer. 
Auch in diesen Schicksalsgemeinschaften sucht die Autorin nach Sinn. 
Letztlich nach Erlösung von Grauen.
Sie findet es hier(noch) nicht. Und doch schenkt sie Empathie und Verständnis.

"Alles gut"? Nein. 

Aber sie (er)findet selbst für diese Frauen "Die eine Geschichte, die ein jeder Mensch zu erzählen hat. Seinen Kindern, seinen Enkeln. Wenn sie groß genug sind, sie richtig würdigen zu können. Oder auch ganz fremden Menschen. Wenn die nur zuhören. Jeder Mensch hat seine wichtigste Geschichte. 
Die ihn unterscheidet von den andern, die ihn rechtfertigt, entschuldigt, erklärt."

Die Denunzierten sind allerdings, in der Realität und auch in diesem Buch, unwiderruflich zerbrochen und zerstört.
Wenn nicht gemordet, dann als Persönlichkeit erloschen. 

Die letzten Sätze des Buches (geschrieben in Richtung einer Denunziantin, mit der Schubert ein langes Gespräch führt) sind also weitaus gespaltener, als in "Vom Aufstehen":

"Die eine Geschichte.
Vielleicht muss sie die erzählen, bis eine jüngere Frau ihr einmal verzeihen kann, eine, die damals noch nicht lebte.
So eine Frau wie ich."
(Originaltext auf www.paganinisberlin.net)