Annette Frühauf

Dipl. Betriebswirtin (BA), Freie Journalistin

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Die blinden Zwillinge malen mit Gefühl

Die blinden Zwillinge malen mit Gefühl

Anna und Marie leiden an der lebensverkürzenden Erbkrankheit neuronale Ceroid-Lipofuszinose (NCL) - auch Kinderdemenz genannt.

In Deutschland gibt es rund 700 Fälle der Stoffwechselerkrankung, von der es verschieden Formen gibt. Den Betroffenen fehlt ein Enzym, das den Abfall aus den Nervenzellen abtransportiert - die Zellen sterben ab. Die Zwillinge sind bereits blind und leiden unter Sprach- und Gangstörungen sowie unter epileptischen Anfällen.

„Hier oben rechts fehlt noch etwas Farbe“, sagt Dorothee Sultze. Marie tupft etwas rosa an die Stelle, die die Sonderschullehrerin im Ruhestand zuvor schon mit Tapetenkleister markiert hat. Die kleine Hilfestellung erleichtert den Mädchen das Malen. Neben Marie sitzt Anna vor ihrem Bild mit den großen und kleinen Rosen. Annekathrin Hofmann führt ihre Hand mit dem Pinsel, um dem Bild den letzten Schliff zu geben. „Marie möchte am liebsten nur verbale Unterstützung. Anna lässt sich schon einmal führen“, weiß Dorothee Sultze, zu der die Zwillinge seit über fünf Jahren jeden zweiten Freitag zum Zeichnen gehen. Die Schauspielerin Annekathrin Hofmann ist ebenfalls immer mit dabei, wenn die Mädchen in ihre ehemalige Heimat im Stuttgarter Osten kommen. Geschäftig geht es dann in der Küche zu, so wie auch heute: Der Tisch ist übersät mit Ganache Farben, bunten Kreiden, Klebstoff, Schere und zwei Glasvasen mit üppigen Rosenblüten.

Marie entscheidet gerade, dass sie ihr Bild für den Papa macht, der morgen Geburtstag hat. Sie malt sich aus, wie sie ihm ihr Geschenk überreicht und lacht vor Freude. Anna hat einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. Sie überlegt noch, ob sie es ihrer Schwester gleichtut. Die Bilder sind noch nicht ganz fertig. Anna vergräbt ihre Nase in einer Blüte und bemerkt lächelnd: „Die riecht so gut“.
Die Frauen haben die Duftrosen am Vortag von der Schwäbischen Alb geholt. „Die gibt es hier nicht“, sagt Dorothee Sultze, die sich über die Begeisterung der 12-Jährigen (Achtung: Sie werden am 9. Juli 13 Jahre alt) freut. Jede bekommt nun ein Körbchen mit bunten Papierblättchen. „Die könnt ihr als Blüten auf die rosa bemalten Flächen kleben. Dann spürt ihr die Blumen beim Darüberstreichen“, leitet die Pädagogin an. An den gemeinsamen Kunstnachmittagen wird mit allen Sinnen gemalt. Marie befühlt ebenfalls die Blumen vor ihr und nimmt ein paar Papierblüten aus ihrem Korb. Dann schiebt sie ihr Bild weg und beginnt, von der Schule zu erzählen. Die Teenager sind die jüngsten in ihrer Klasse mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in der Nikolauspflege in Stuttgart, eine Stiftung für Blinde und Sehbehinderte.

Auch Annas Konzentration lässt nach. Ihr kommt ein Gedicht in den Sinn, das sie sogleich rezitiert. „Das sage ich morgen für Papa auf“, erklärt sie. „Mein Bild bekommt er noch dazu.“ Bevor es ins Wohnzimmer zum Vorlesen geht, besprühen die beiden ihre Geschenke mit Rosenspray. Die Zwillinge bewegen sich hier so sicher, dass ihre Blindenstöcke überflüssig sind. Anna wünscht sich das Märchen ‚Die Blumen der kleinen Ida‘ von Hans Christian Andersen – passend zur heutigen Malstunde. Annekathrin Hofmann hat das Buch bereits in der Hand. Zum Vorlesen gibt es Pfitzauf. Anna und Marie, die neben Dorothee Sultze sitzen, lassen sich die schwäbische Süßspeise schmecken. Marie befühlt die Ohrringe der ehemaligen Lehrerin und fragt nach ihrer Farbe. Plötzlich bricht Anna in Gelächter aus, ihre Schwester fällt ein und kann sich gar nicht mehr beruhigen. Beide amüsieren sich über die Blumen aus dem Märchen, die zum Tanzen von ihren Stängeln hüpfen. Erst als der Lachanfall langsam verebbt, kann weitergelesen werden. Die Konzentration, die während des Malens zu spüren war, ist einer angenehmen Entspannung gewichen. Die Mädchen genießen die Aufmerksamkeit. Ab und zu trottet die Hündin Flavia vorbei und lässt sich für ein Stückchen Pfitzauf gerne tätscheln.

Anna erklärt, was sie sich zum Geburtstag wünscht. „Ich möchte ein Lexikon in Punktschrift.“ Sie ist stolz, dass sie die Blindenschrift beherrscht und fügt hinzu: „Wenn ich nicht blind geworden wäre, hätte ich die nie gelernt.“ Ihre Schwester hingegen wünscht sich, wieder sehen zu können: „Sonst kann ich nicht Autofahren.“ Sie setzt nach: „Wenn mein Mann auch blind ist, wer fährt dann in den Urlaub?“ Um wieder sehen zu können, müsste ein Wunder geschehen. Die Krankheit NCL, die 2014 nach einer zweieinhalbjährigen Ärzte-Odyssee bei den Zwillingen diagnostiziert wurde, ist lebensbedrohlich – schrittweise werden Anna und Marie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten verlieren. Seitdem ist bei der Familie nichts mehr wie früher. Die Fachärzte der NCL-Sprechstunde im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) kennen das. Sie sind die erste Adresse für NCL-Patienten in Deutschland, auch Anna und Marie kommen zu ihnen. Hilfe bekommen die Eltern der beiden von der NCL-Gruppe Deutschland e.V., die Selbsthilfeorganisation vernetzt Betroffene zur gegenseitigen Unterstützung. Der Alltag der siebenköpfigen Familie ist eine ständige Herausforderung für die Eltern, die die Unterstützung von Dorothee Sultze und Annekathrin Hofmann daher sehr schätzen. Bevor Anna und Marie nach Hause gebracht werden, packen sie ihre Kunstwerke ein. Sie freuen sich schon auf Papas Reaktion, wenn er die duftenden Bilder auspackt.

Weitere Informationen über NCL unter: www.ncl-deutschland.de und www.ncl-stiftung.de