Sex mit Autos und eine Frau mit einer Wirbelsäule aus Titan: Julia Ducournau wird mit ihrem zweiten Film erneut als Provokateurin gefeiert. Ein Gespräch über schaurige Märchen, nackte Körper und warum ihr "Titane" eine Geschichte über bedingungslose Liebe ist.
Interview von Tobias Kniebe und Annett Scheffel
Als die französische Regisseurin Julia Ducournau im Juli die Goldene Palme in die Luft reckte, war sie die Sensation der Filmfestspiele von Cannes. Mit ihrem zweiten Spielfilm „Titane“ zog die 37-Jährige an allen männlichen Favoriten vorbei. Erst als zweite Frau in der Geschichte des Festivals gewann sie den Hauptpreis für den besten Film. „Titane“ handelt von einer jungen Frau (Agathe Rousselle), die am Anfang alle Menschen, die ihr zu nahe kommen, umbringt. Dann hat sie Sex mit einem Cadillac, durchlebt eine Schwangerschaft und bringt unter unvorstellbaren Schmerzen ein Baby zur Welt bringt, dessen Wirbelsäule aus Titan ist. Zugleich verwandelt sie sich und gewinnt die Liebe eines alternden Macho-Mannes (Vincent Lindon), der sie schließlich als das undefinierbare Wesen akzeptiert, das sie geworden ist. In ihrer Siegesrede freute sich Ducournau, Cannes habe endlich die „Mauern der Normativität“ gesprengt und die „Monster hineingelassen“. Beim Gespräch in Berlin ist ihre Begeisterung für die ungewöhnlichen Kreaturen, die ihr Kino prägen, sofort ansteckend.
SZ: Erinnern Sie sich an das erste Monster, in das Sie sich verliebt haben?
Julia Ducournau: Ja. Das muss Blaubart gewesen sein. Ich würde zwar nicht „verliebt“ sagen, weil ich noch ein Kind war, aber das hat gewaltigen Eindruck auf mich gemacht. „Blaubart“ war eines meiner Lieblingsmärchen. Alles war so angsteinflößend: die Kammer mit den ermordeten Ehefrauen. Und dann das Blut am Schlüsselbund, das man nicht mehr abgewaschen kann. Was für ein schauriges Märchen! Ich frage mich, warum man das Kindern überhaupt vorliest. Aber ganz ehrlich, ich habe es geliebt (lacht). Als ich ein wenig älter war, kam dann noch Mary Shelleys „Frankenstein“ dazu und ist bis heute einer meiner liebsten Romane geblieben.
Hatten Sie damals das Gefühl, anders als die anderen Kinder zu sein, denen Ungeheuer wie Blaubart nur Angst einjagten?
Nein, eigentlich nicht. Oder anders: Ich glaube, dass alle Kinder sich früher oder später irgendwie anders fühlen. Besonders in dem Alter, wenn sie in die Schule kommen und plötzlich mit anderen Kindern, komischen Blicken und ständigen Vergleichen zurechtkommen müssen. Das ist für mich der springende Punkt, wenn wir über Monster sprechen: Wir alle haben uns in unserem Leben schon wenigstens einmal wie eines gefühlt – wie jemand, der nicht dazugehört. Ich meine natürlich nicht die wirklichen Ungeheuer: Mörder, Vergewaltiger oder so. Sondern etwas, das sich der Norm widersetzt, das außerhalb von uns, außerhalb der Gesellschaft, außerhalb der Menschlichkeit liegt. Dabei ist es doch so: Ob es uns gefällt oder nicht, Monster gehören zu uns. Sie gehören zum Menschsein dazu. Wir müssen akzeptieren, dass sie ein Teil von uns sind.
In Ihrem ersten Spielfilm „Raw“, in dem eine junge Studentin ihre Lust auf Fleisch entdeckt, ging es um Kannibalismus. Lässt sich mit Horrorgeschichten besser von der menschlichen Suche erzählen?
Meine Idee für „Raw“ war es auf jeden Fall, ganz nah an der Figur dran zu sein. Die Zuschauer sollten sich in sie hineinversetzen können, auch als sie dann plötzlich diese Triebe verspürt, die sie zwar zu einem Monster machen, sie aber paradoxerweise auch als Mensch emanzipieren. Das ist eine Vorstellung, die mir auch an „Frankenstein“ immer gefallen hat: Victor Frankenstein blickt mit Schrecken auf sein künstliches Wesen. Je menschlicher es wird, desto brutaler wird es auch. In seinem Ungeheuer sieht er sich schließlich selbst. Die Gewalt kommt von ihm, die Gewalt ist etwas zutiefst Menschliches.
Auch hinter dem Titel Ihres neuen Films verbergen sich Ungeheuer: In der griechischen Mythologie sind die Titanen Riesen in Menschengestalt. Wie lange begleitet Sie das schon?
Griechische Mythologie fasziniert mich seit meiner Kindheit und ist etwas, auf das ich als Erwachsene immer wieder zurückkomme. Für „Titane“ hat mich die Geschichte der Geburt einer neuen Welt, eines neuen Geschlechts interessiert. Die Titanen sind grausame Kreaturen. Und sie sind ungeheuer stark. Sie sind stark, weil sie grausam sind. Auch in meinem Film gibt es am Ende eine solche Geburt. Ein Kind, das stärker ist als die anderen, mit einer Wirbelsäule aus Titan. Das ist meine Idee einer neuen Menschheit. Und dafür habe ich im Titel mit dem „E“ am Wortende gespielt, das im Französischen die weibliche Form signalisiert.
Ihre Hauptfigur ist ein Mischwesen, das nicht mehr auf ein Geschlecht festzulegen ist. Was hat Sie daran gereizt?
Ich wollte eine Welt erschaffen, in der Geschlechterrollen viel weniger definiert sind. Eine Welt, in der meine Figuren am Ende frei sind, das zu sein, was sie sein wollen. Bei der Lichtsetzung habe ich mich zum Beispiel dafür entschieden, die bekannte Warm-kalt-Trope im Zusammenhang mit Weiblichkeit und Maskulinität umzukehren. Die androgyne Alexia sieht man in einem Licht, das kalt, hart und kontrastreich ist. Und Vincent steht mit seinen Muskelbergen im warmen, weichen Licht. Für mich verbindet sich das mit der Tatsache, dass seine Figur unglaublich verletzlich ist – wahrscheinlich viel verletzlicher als sie. Wie ein Golem aus Lehm, der jederzeit zusammenfallen könnte.
Wie bedeutsam, würden Sie sagen, ist das Geschlecht für die Identität eines Menschen?
Es ist komplett irrelevant. Ich finde, es sollte bei Genderfragen viel mehr darum gehen, was wir sein wollen, ganz gleich, in was für einem Körper wir geboren sind.
Der Körper, die Biologie, die Natur – das alles bindet Frauen an die Vergangenheit und alte Machtstrukturen. In „Titane“ bewegen Sie sich davon weg – in Richtung Transhumanismus. Ist die Natur etwas, das wir überwinden müssen?
Nicht nur Frauen sind auf diese Weise an die Natur gebunden, Männer ebenso. Ich wäre als Mann zum Beispiel beleidigt, wenn ich mir immer wieder anhören müsste, dass Männer per se gewalttätiger sind. Aber das ist es ja gerade: Wenn wir über die Natur sprechen, geht es sofort um Determinismus. Ich wollte im Gegenteil von zwei Menschen erzählen, die sich bedingungslos lieben – jenseits von Naturgesetzen und Vorbedingungen. Meine Hauptfigur ist männlich, sie ist weiblich, sie ist Tänzerin und Feuerwehrmann, sie ist schwanger, sie ist Vincents Sohn und sein Liebhaber. Aber erst am Ende traut sie sich, ihm all diese Seiten von sich zu zeigen. Sich nackt vor ihm zu machen.
Aber dieser nackte Frauenkörper wird eben nicht zu einem sexualisierten Objekt. Warum gibt es im Jahr 2021 immer noch so viele Filme, die Welten davon entfernt sind?
Ich kann diese Filme oft gar nicht zu Ende schauen. Nicht, weil sie mich besonders aufregen würden. Das wirkt einfach so überholt und angestaubt, dass ich immer denke: Ach, kommt schon? Echt jetzt? (lacht) Mal abgesehen von der Sexszene mit dem Auto – die natürlich sehr sinnlich sein sollte – war es mir in meinem Film wichtig, nackte Körper in ihrer ganzen Trivialität und Verletzlichkeit zeigen. Beide Körper: den von Alexia und den von Vincent. Sie sollten nicht schöner oder sexyer oder männlicher oder irgendwas gemacht werden, als sie sind. Beide haben ihre Narben, beiden versuchen, ihren Körper umzuformen. Geht uns das nicht allen so? Ist irgendjemand hundertprozentig glücklich mit dem, was er oder sie sieht, nackt und alleine vorm Badezimmerspiegel? Das ist ein Thema, das mich sehr bewegt. Weil es eine Verbundenheit zwischen uns schafft, über die wir nie wirklich sprechen.
Haben Sie versucht, das Auto sexy aussehen zu lassen?
(Lacht) Vielleicht nicht unbedingt sexy, aber auf jeden Fall verführerisch. Obwohl … um ehrlich zu sein, gibt es da schon einen Moment in der Szene, die ich unglaublich sexy finde: Nachdem Alexia in das Auto eingestiegen ist, gibt es diesen kurzen Augenblick der Stille. Und dann macht das Auto ein Geräusch und einen kleinen Sprung. Es ist der Moment, in dem es lebendig wird.
Aber einen Autofetisch haben Sie nicht?
Nein, überhaupt nicht. Ich habe noch nicht mal einen Führerschein. (lacht) Was mich an den Autos interessiert hat, war eher die Tatsache, dass sie auf der Auto-Show zu Beginn des Films in gewissem Sinne wie Frauen betrachtet und behandelt werden. Wenn man so will, ist das meine Interpretation des männlichen Blicks. Deswegen habe ich nach Möglichkeiten gesucht, das kalte, tote Material als etwas Warmes und Organisches zu inszenieren.
Wie sehr hat die Goldenen Palme Ihr Leben verändert?
Ich bin immer noch derselbe Mensch. Aber inwiefern der Preis meinen weiteren Weg bestimmt, wird sich erst im Laufe meiner Karriere erfassen lassen. Natürlich muss ich das alles immer noch sacken lassen. Dieser Moment auf der Bühne war vielleicht der größte und emotionalste meines Lebens. Ich kann das gar nicht in Worte fassen.
Sie sind erst die zweite Frau mit einer Goldenen Palme, nach Jane Campion im Jahr 1993.
Ja, ich habe die ganze Zeit an sie gedacht. Daran, wie es sich für sie angefühlt haben muss. Für mich war es 28 Jahre später das Gefühl, Teil einer Zukunft zu sein, die jetzt beginnt. Es war so tröstlich und ermutigend, an die nächsten Frauen zu denken, die dritte, und dann die vierte und fünfte. Ich hatte plötzlich das Gefühl, Teil einer Bewegung, einer Entwicklung zu sein.
Für „Titane“ haben Sie fünf Jahre gebraucht. Geht es mit dem nächsten Film jetzt schneller?
Ich versuche nicht, gegen meinen natürlichen Arbeitsprozess anzukämpfen. Ich weiß nie, wie lange es dauert und welche Hindernisse sich mir auf dem Weg hinein in die Figuren und die Geschichte und das eigene dunkle Innere entgegenstellen. Ich habe jedenfalls noch nicht wieder angefangen zu schreiben.
Im Kern ist „Titane“ ein sehr optimistischer Film. Entspricht das Ihrer Lebenseinstellung?
Nicht immer. Ich jedenfalls brauchte diesen Film, der stark und hoffnungsvoll ist, mit einem wunderschönen Ende. Als ich „Titane“ geschrieben habe, war ich ziemlich ängstlich und verzweifelt. Im Grunde bin ich es immer noch: Nur weil Donald Trump weg ist, heißt das nicht, dass sich die Dinge zum Besseren ändern. Vielleicht wird mein nächster Film wieder weniger optimistisch.
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