In Rosalías neuem, sensationellem Album "Motomami" kollidieren Genres und internationale Einflüsse. Der spanischen Sängerin wird deswegen kulturelle Aneignung vorgeworfen. Eine Begegnung.
Von Annett Scheffel
Wie mischt man eigentlich am besten Reggeaton mit Jazz? Wie passen ballernde Computer-Beats in ein sentimentales Liebeslied? Kann man einen Bolero auf einem abgehackten Hip-Hop-Sample aufbauen? Und wie funktioniert Flamenco mit Autotune? Etwas spezielle Pop-Fragen, klar. Und doch auch sofort mehr.
Die Sängerin Rosalía hat schließlich ein neues, wirklich sensationelles Album veröffentlicht. In der Musik der 29-jährigen Spanierin kollidieren die Genres, die kulturellen Traditionen und die Musikgeschichte ja schon länger auf schönste und brachialste Weise. „Motomami“, das neue Werk, ist nun aber ein besonders wilder Trip durch ein beängstigend komplexes Netz an Referenzen, Codes und Anspielungen. Es gibt lustige Internet-Dance-Hits, Flamenco-Rhythmen und Dembow- und Reggaeton-Beats. Es gibt jugendliche Angeber-Lyrics über Geld und Ruhm und sinnliche Balladen mit experimentellen Drum-Texturen. Mit keinem der unzähligen Stile, Konzepte und Ideen, durch die sie dabei rast, hält sie sich länger als die Dauer eines Songs auf. Wenn überhaupt. Die ganze Welt in einem Album. So dürfte das ab hier öfter klingen, wenn Avantgarde-Techniken in den Pop-Mainstream und seine immer wichtiger werdenden spanischsprachigen Genres krachen.
Anders gesagt: Rosalía ist soeben die unwahrscheinliche Meisterleistung gelungen, die Blaupause für eine Popmusik der Zukunft zu erschaffen.
Und je angestrengter man darüber nachdenkt, warum das nun alles so perfekt zusammenpasst, desto heißer glüht einem der Kopf. Natürlich kann man die kleinen Referenzfeuerwerke auch einfach als das genießen, was sie ebenso sind: eingängige Popsongs, die innovativer und aufregender klingen als die meisten Sachen der vergangenen Jahre. Aber man will ja auch verstehen.
Also ein Video-Call mit der Künstlerin. Rosalía Vila Tobella, geboren 1993 in einer Vorstadt von Barcelona, ist hinreißend gut gelaunt, überschwänglich, sehr witzig. Auf dem Bildschirm ist eine junge Frau zu sehen, die mit quasi-heiligem Ernst über ihre Liebe zur Musik sprechen und im nächsten Moment herumalbern kann, ohne dass eines von beidem aufgesetzt wirkte. Viele ihrer Sätze klingen nach Understatement. Gesprochen wird in einem charmanten Mix aus Spanisch und Englisch.
Frage also: Der irre Genre-Mix, wieso funktioniert er bei ihr so selbstverständlich? Antwort Rosalía: „Ich liebe alle Stile. In meinem Kopf ist das alles auf einer Stufe. Und meine Absicht im Studio ist es, immer etwas zu machen, was ich noch nie gehört habe.“ Sehr passable Beschreibung ihres neuen Albums.
Gleich im Opener „Saoko“ rappt Rosalía: „Yo soy muy mía, yo me transformo / Una mariposa, yo me transform“ – Ich bin sehr ich selbst, weil ich mich verwandle, wie ein Schmetterling. Der Song ist eine Hommage an einen Reggaeton-Club-Hit der puerto-ricanischen Rapper Wisin und Daddy Yankee aus den Nullerjahren, den Rosalía mit Elektro-Glitches und Jazz-Breaks kombiniert. Im dazugehörigen Video gibt es außerdem: stylische Motorrad-Ästhetik und sehr lange, sehr spektakulär verzierte Fingernägel. „Mensch sein bedeutet für mich, widersprüchlich zu sein“, sagt sie im Gespräch dazu. „Ich bin mir meiner eigenen Ambivalenz bewusst. Ich fühle mich damit sehr wohl. Und ich will, dass das in meiner Musik zum Ausdruck kommt.“
Rosalía hat einen ungewöhnlich steilen Aufstieg hinter sich. Ihrem Debütalbum „Los Ángeles“, einer schlicht instrumentierten Sammlung morbider, spanischer Folk-Songs, hörte man 2017 ihre klassische, zehnjährige Flamenco-Ausbildung noch sehr deutlich an. Schon ein Jahr später erschien als Uniabschlussprojekt die Platte, die Rosalía ins Zentrum einer neuen Pop-Vernetzung katapultierte: Mit „El Mal Querer“ verortete sie die spanischsprachige Musik in unserer digitalen Gegenwart auf ganz neue Weise. Flamenco, R’n’B, lateinamerikanische Stile und experimentelle Elektro-Beats kamen hier zusammen. Und wie. Auch ohne Top-10-Hit und noch bevor man in Deutschland Notiz von ihr nahm, wurde sie zur einflussreichen, internationalen Pop-Figur.
Die Youtube-Zugriffe gingen schnell in die Milliarden. Es erschienen gemeinsame Singles mit James Blake und Billie Eilish, dem Rapper Travis Scott und dem kolumbianischen Reggaeton-Superstar J Balvin. Rosalía zierte außerdem nun unzählige Modemagazin-Covern, stand neben Penélope Cruz in einem Film von Pedro Almodóvar und im sehr, sehr expliziten Video zu Cardi Bs Superhit „WAP“.
Wer eine exzellente Zusammenfassung ihrer Strahlkraft sucht und 28 Minuten Zeit hat, schaue sich die Tiktok-Performance an, die sie zur Veröffentlichung von „Motomami“ aufgenommen hat. Alles an dem Video – die Choreografien, die Kamerabewegungen, die Outfits – ist extrem zeitgemäß, von enormem kreativen Anspruch. Und absolut punktgenau inszeniert.
Die Rosalía im Video-Call-Bildschirm spricht inzwischen über die Filmemacherin Valie Export und den Psychiater Carl Gustav Jung, die mexikanische Ranchera-Sängerin Chavela Vargas, den Film „Titane“ der Regisseurin Julia Ducournau, Modedesigner Rick Owens und den japanischen Fotografen Nobuyoshi Araki, über die Sängerin Niña Pastori, den Sänger José Mercé, den Electro-Produzenten Aphex Twin, Rapperin Lil Kim, Punk-Ikone und Schriftstellerin Patti Smith, Kate Bush und die Reggaeton-Sängerin Ivy Queen. Man hatte sie da noch mal vorsichtig nach ihren Einflüssen gefragt. „Jesus Christus, es gibt so viele Dinge, die mich inspirieren“, sagt sie dann. Lacht. Winkt ab. „Ich könnte die Aufzählung ewig fortsetzen.“
Was nun zu den Diskussionen führt. Denn natürlich ist es nun auch so in diesen Tagen: Wo eine – liebevoll und ehrfürchtig – zertrümmert und neu zusammensetzt, was lange und sehr selbstverständlich unangetastet blieb, und sich dabei wirklich überall bedient, droht Kritik. Neben den Lobeshymnen ging also auch das Gemäkel los. Nicht alles davon ist banal. Man kann Rosalías Musik tatsächlich kaum hören, ohne über jene Identitätsdebatten zu stolpern, die seit Jahren zur kulturellen Aneignung, der cultural appropriation, in der Popmusik geführt werden. Natürlich liegt die Sache mit dem kulturellen Fundus, aus dem sie mit beiden Händen schöpft, etwas komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint.
Reggaton und Dembow etwa sind afrokaribische Stile. Und Rosalía ist eine weiße Europäerin. Dass sie dennoch einen Grammy-Award in der Kategorie für Latin-Music erhielt, hat einige Leute verärgert, und diese Wut hat zunächst gute Gründe: Die Musikindustrie hatte (und hat in Teilen noch immer) die unbestreitbare Tendenz, weiße Künstler auch in schwarzen Genres in den Vordergrund zu rücken und damit den Ursprung einer Kunst zu verstellen. Das war und ist ein Problem. Einerseits. Andererseits gilt aber auch: In unserer globalisierten Welt rückt alles näher zusammen – Menschen, Identitäten, Stile, Hörgewohnheiten, Mode, Genres. Die Grenzen verwischen. Gerade im Pop.
Rosalía weiß das. Sie ist dem Thema deshalb nie ausgewichen. Sie hat immer ehrlich über ihren Respekt für die Genres gesprochen, zu denen sie als Teenager mit ihren Freunden tanzte. Und sie benennt ihre Quellen. Immer. „Mir ist es egal, wie klein der Beitrag ist. Selbst wenn es nur um einen Begriff geht, den ich in den Lyrics verwende: Ich vergebe immer einen Credit.“
Einigen genügt das nicht. Rosalía weiß auch das. In der globalisierten Welt sind auch die Wege der Kritik kurz und direkt. „Ich verstehe, dass viele Leute das anders sehen, und ich respektiere diese Meinungen“, sagt die Sängerin also. Sie suche deshalb weitere Wege, wie sie etwas an die Communitys zurückgeben kann. „Aber wenn es um Kreativität geht, dann kann ich nur als Künstlerin sprechen. Und als Künstlerin geht es mir beim Musikmachen nicht um richtig oder falsch, sondern um die Freiheit der Form und eine Dringlichkeit, die ich spüre. Ich kann nicht kreativ sein, wenn ich mir Gedanken darüber mache, was ich darf, und was nicht.“
Man kann „Motomami“ übrigens auch noch anders lesen. Als feministische Ansage nämlich. Weil sich seine Protagonistin weigert, sich auf irgendetwas oder irgendjemanden festzulegen. Sie ist belesene Kulturauskennerin und sexy Motorrad-Girl. Sie singt über die Liebe zu Männern, zu sich selbst, zu Gott und Familie, darüber, in der Vergangenheit verhaftet zu sein und trotzdem im Hier und Jetzt zu leben. Darüber, großartig aussehen zu wollen, und trotzdem zu wissen, dass Schönheit zwangsläufig vergeht.
Rosalía will alles auf einmal. Oder wie sie in „Saoko“ rappt: „Soy todas las cosas“ – ich bin alles. „Ich bin heute nicht die, die ich gestern war“, sagt die Sängerin zum Abschluss. „Und morgen werde ich wohl auch nicht die sein, die ich heute bin.“ Kurz hat man das Gefühl, dass sie noch etwas anderes meint: Ich bin immer in Bewegung, ich bin zu schnell, ihr bekommt mich nicht zu fassen. Für die Popwelt ist diese Vieldeutigkeit ein Glücksfall.
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