Kanye West und sein "Stem Player" Geniales Pop-Gadget oder blödes Gummi-Ei?
Abseits seiner Instagram-Exzesse gilt Kanye West immer noch als genialer Musiker. Sein neues Album "Donda 2" erscheint exklusiv auf seinem eigenen, 200 Dollar teuren Player. Wir haben einen davon in die Finger bekommen.
Aus Los Angeles berichtet Annett Scheffel
Ein bisschen geheimnisvoll ist es schon, dieses kleine, blinkende Ding. Wenn nach dem Auspacken zum ersten Mal die bunten, kreuzförmig angeordneten Lichterreihen aufleuchten. Dann hält man es kurz für etwas Lebendiges. Ein fremdartiges Cyborg-Ei. Wie ein Objekt aus dem Videospiel in David Cronenbergs Sci-Fi-Thriller "eXistenZ". Oder wie ein Tamagotchi-Update mit Touch-sensibler Oberfläche. Mit seiner weichen Gummioberfläche könnte man es auch für ein Sexspielzeug halten. Es fasst sich jedenfalls gut an, dieses handtellergroße, biskuitbeige Gadget, das der Rapper und Musikproduzent Kanye West zusammen mit dem Londoner Tech-Start-up Kano Computing entwickelt hat. Und wenn man es anschaltet, gibt es zur Begrüßung mit Computer-verzerrte Stimme einen Endlos-Loop von sich: "Donda, Donda, Donda, Donda, Donda, ..."
Der "Stem Player" soll Wests Emanzipation von den Streamingplattformen symbolisieren. Deren Übermacht muss für den notorisch größenwahnsinnigen Künstler, der sich seit 2021 Ye nennt, ein Affront ohnegleichen sein. Deswegen ist es nur folgerichtig, dass sich der 44-Jährige entschieden hat, sein neues Album "Donda 2" nicht bei Spotify oder Apple Music oder anderen Diensten zu veröffentlichen. Wer das Album besitzen will, muss sich dafür Wests eigenen Player kaufen.
Im Grunde ist das eine clevere Geschäftsidee. Und ein Experiment, das als Blaupause für neue Musikvermarktungsstrategien taugen könnte. Eine Welt, in der immer mehr Künstler und Künstlerinnen ihre Musik direkt an ihr Publikum verkaufen, wäre wohl eine gerechtere. "Nur zwölf Prozent des Geldes, das die Industrie mit Musik macht, gehen heute an die Künstler. Es ist an der Zeit, die Musik von diesem repressiven System zu befreien", verkündete Ye dazu weihevoll auf Instagram.
Dann wiederum ist das, was West als revolutionäre neue Technologie bewirbt, aber doch nur so etwas wie ein handelsüblicher MP3-Player - wenn auch mit ein paar interessanten Extrafunktionen. Ein schicker High-End-iPod für die Gegenwart, ein halb nostalgisches und halb futuristisches Objekt, das jedoch die Frage aufwirft, wie so eine technische Revolution ohne Display (was das Navigieren erheblich erschwert) und mit nur acht Gigabyte Speicherplatz funktionieren soll. Vor allem ist der "Stem Player" ein sehr teures Spielzeug. 200 Dollar kostet das Gerät (mit Steuern und Versand ist man bei 230 Dollar) und ist außerhalb der USA gar nicht so einfach zu bekommen. Sogar dort dauert es bis zu zwei Wochen bis zur Lieferung.
Für ein Publikum, das sich daran gewöhnt hat, immer und überall Musik entweder umsonst oder im Rahmen von Monatsabos zu konsumieren, ist das ein gewaltiges Investment, zumal man allein bei Spotify Zugriff auf eine riesige Musikbibliothek hat. Mit dem "Stem Player" bekommt man erst einmal nur das neue Album von Kanye West, das zumindest exklusiv. Vorinstalliert sind außerdem seine Alben "Donda" und "Jesus Is King". Aber die kann man auch woanders hören. Und natürlich war auch "Donda 2" schon ein paar Tage nach Veröffentlichung der ersten Version in zahllosen Raubkopien verfügbar. West behauptete bereits Ende Februar, sein Gadget sei ein voller Erfolg: Binnen weniger Tage habe er mehr als 10.000 Exemplare verkauft und über zwei Millionen Dollar Umsatz gemacht. Kein Wunder, bei dem Preis.
Vielleicht hätte das alles trotzdem auch für Yes Kundschaft ein guter Deal sein können. Denn der "Stem Player" erlaubt es Benutzerinnen und Benutzern, Songs in einer einzigartigen Weise zu hören. Stem - das bedeutet übersetzt Stamm oder Stängel. Und in die lässt sich die Musik aufteilen: Über vier berührungssensible, leuchtende Schieberegler kann man einzelne Instrumente oder Gesangsspuren isolieren und neu zusammenmischen, Loops erzeugen, Effekte hinzufügen und die Abspielgeschwindigkeit variieren. Man bekommt also nicht nur die Musik als Fertigprodukt, sondern auch die Möglichkeit, diese auf einfache Weise selbst zu remixen und ganz neu zu erfahren.
Das funktioniert nicht nur mit Wests Musik: Über ein Kabel kann man jeden beliebigen Song auf den Player laden (von der Festplatte oder via YouTube-Link). So kann man sich zum Beispiel einen einzelnen Synthesizer von Kraftwerk anhören oder die Drums von Abbas "Dancing Queen" zusammen mit dem Saxofon aus "What's Going On" von Marvin Gaye in einen Loop schicken. Nur das Finale von Beethovens 9. Sinfonie ist dann doch etwas zu viel für das kleine Gerät. Es ist eine schöne Spielerei, und für etwa 30 Minuten macht das alles auch Spaß. Spätestens dann stellt man jedoch als Normalnutzerin fest, dass es doch entspannender ist, einen gut produzierten Track zu genießen, als selbst durch seine Einzelteile navigieren zu müssen.
Wenn "Donda 2" (oder "V2.22.22 Miami" wie Ye die aktuelle Version betitelt hat) denn ein gut produziertes Album wäre. Gerade beim Durchklicken der einzelnen Tonspuren fällt auf, wie schwach Wests elfte Studioveröffentlichung musikalisch ist. "Donda 2" hat durchaus Momente: die plötzlich eruptierenden Elektrobeats in "Too Easy", Alicia Keys' Gesang in "City of Gods" oder die bissige Hook in "Louis Bags" ("I stopped buying Louis bags after Virgil passed" referiert auf seinen kürzlich verstorbenen Freund und Modedesigner Virgil Abloh).
Insgesamt aber ist es ein glanzloses, unfertig wirkendes Album, eine Ansammlung von Songskizzen und größtenteils wenig originellen Rap-Tiraden. Die meiste Zeit geht es - mit bitteren Untertönen - um die Trennung von Bald-Ex-Ehefrau Kim Kardashian. Aber dabei leider nicht um die interessanten Aspekte - das Ausloten von Männlichkeitsbildern etwa oder den Mythos der Ehe -, sondern vor allem um Klischees wie Drohgebärden und Opferrollen.
In Wests künstlerischer Ausrichtung scheint die Musik selbst aber auch kaum noch eine Rolle zu spielen, was man an "Donda 2" klarer als je zuvor erkennen kann: Ye will längst keine Genre-prägenden Alben mehr veröffentlichen, er will jetzt in einem Atemzug mit Namen wie Steve Jobs oder Elon Musk genannt werden. Wichtiger als die Musik sind ihm längst Konzept, Design und kultureller Einfluss - und natürlich das große Spektakel und der ganze Instagram-Irrsinn, an den man sich bei ihm seit einigen Jahren gewöhnt hat. Wests Idee von einem fluiden Werk, das nach und nach in immer neuen Versionen auf dem "Stem Player" aktualisiert wird, erscheint wie eine Ausrede, um die Mittelmäßigkeit der Produktion zu verstecken und gleichzeitig seine mangelnde Konzentrationsfähigkeit zu kaschieren: Wenn es keine letztgültigen Versionen gibt, dann muss auch keine mehr zum Punkt kommen.
Es ist daher Fluch und Segen zugleich, dass das Erscheinen von "Donda 2" so nah an einer anderen Veröffentlichung liegt. Ein paar Wochen bevor Ye sein Album mit großem Brimborium in einem Stadion in Miami vorstellte, startete auf Netflix eine dreiteilige Dokumentation über ihn. "Jeen-Yuhs" ist ein faszinierender Blick zurück auf Wests frühe Jahre, als er sich zu Beginn dieses Jahrtausends aus Chicago aufmachte, die Hip-Hop-Welt neu zu gestalten. Der junge, hungrige Mann, den man hier zu sehen bekommt, ruft einem ins Gedächtnis, was man in den letzten Jahren inmitten von immer mäßigeren Alben, fragwürdigen politischen Äußerungen, dem Besuch bei Trump, dem öffentlichen Ehedrama, psychischen Problemen und unzähligen Social-Media-Ausfällen fast vergessen hatte: Wie sehr er für seine Musik brannte. Und wie erfrischend er sein konnte, als er mit großspurigem Selbstvertrauen ins Rap-Geschäft hineintrampelte. In einer der besten Szenen der Dokumentation geht West bei Jay-Zs Plattenfirma Roc-a-Fella unbeirrt von Tür zu Tür, um irgendjemanden dazu zu bewegen, sich das Demo seines Tracks "All Falls Down" anzuhören.
"Jeen-Yuhs" hätte also die beste Werbung für Yes neues Album sein können - ist dann aber leider doch das genaue Gegenteil, weil der Kontrast zu seinem früheren Wirken und Werk noch schmerzhafter und klarer hervortritt. Kanye West, der Musikproduzent und Rapper, war immer Grenzgänger, Tastemaker und Perfektionist in einem. Heute verkauft er halbfertige Tracks auf einem beigefarbenen Gummi-Ei. An die aktuelle Musik darauf wird sich in zehn Jahren vermutlich niemand erinnern. An den "Stem Player" möglicherweise schon. Vielleicht aber auch nur an Yes und Kims Scheidungszirkus in den sozialen Medien.