Der Spot einer eher unbekannten SPD-Kandidatin wird in nur vier Tagen auf YouTube knapp 190.000 Mal geklickt – öfter als das offizielle Video der SPD. Kann das sein?
Andrea Wicklein dürfte den meisten Menschen in Deutschland eher unbekannt sein. Seit 2002 sitzt die 55-Jährige für die SPD im Bundestag. Ihre Plakate hängen an Laternen in ihrem Wahlkreis Potsdam, im Netz war sie bisher nicht überdurchschnittlich aktiv. Bis am Sonntag auf YouTube ein Video von ihr erschien, das sich rasant zu verbreiten schien.
Fast 190.000 Klicks in vier Tagen. Zum Vergleich: Die populärsten Videos der vergangenen Tage, zum Beispiel zu dem Videospiel Grand Theft Auto oder zum Flashmob der Jungen Union, haben 224.000 und 143.000 Aufrufe. Der offizielle Spot der SPD wurde knapp 119.000 Mal gesehen, der von der CDU 365.000 mal.
Die restlichen Wahlkampfvideos von Wicklein haben zwischen 40 und 900 Klicks. Wie kann es sein, dass das Werbevideo einer eher unbekannten Politikerin innerhalb weniger Tage öfter geklickt wird als die von großen Parteien?
Die Idee eines Schülers
Mit der Entstehung des Videos hat Andrea Wicklein nicht viel zu tun. Der 19-jährige Abiturient Nico Marquardt aus Potsdam hat es produziert, als Teil eines Schulprojektes im Politikunterricht. Er finde, dass sich junge Leute zu wenig für den Wahlkampf interessieren, sagt Marquardt. Wicklein kenne er nicht, aber er fände ihr Programm überzeugend. So entschied er sich, zusammen mit einer Mitschülerin das Video zu produzieren.
Andrea Wicklein war sofort begeistert, erzählt sie. Von Social Media habe sie nicht viel Ahnung, außer auf ihrem Facebook-Account und ihrer offiziellen Website ist sie nicht sonderlich aktiv im Netz. Ein Wahlkampf-Video hatte sie bereits professionell erstellen lassen. Nico Marquardt konnte daraus einige Szenen verwenden, andere drehte er mit Wicklein im Bundestag nach.
Am Sonntag ging das Video online. Wie sich die View-Zahl in den ersten zwei Tagen entwickelte, lässt sich nicht nachvollziehen. Die Statistiken, die normalerweise unter jedem YouTube-Video stehen, sind bei Wickleins Spot deaktiviert. Allerdings kann man beobachten, wie seit Mittwoch in regelmäßigen Abständen die Zahlen der Views und die der Likes nach oben gehen.
Marquardt sagt, das Video wird deshalb so oft geklickt, weil es so gut ist und er es über seine 500 Facebook-Freunde weit gestreut hat. Andrea Wicklein vertraut auf Marquardts Internetkompetenz, wundert sich aber auch ein bisschen über den Erfolg.Alles nur gekauft?
Allerdings liegt noch ein anderer
Verdacht nahe: Die Klickzahl wurde manipuliert. Es gibt Agenturen, die YouTube-Klicks
verkaufen. 5.000 Views
kosten zum Beispiel 9,99 Euro. Darüber, wie genau das funktioniert, schweigen die Agenturen. Fakt ist, dass die meisten Abrufe bei solchen
Kampagnen aus Asien, Russland und den USA kommen. Ob dahinter echte Menschen
vor Bildschirmen stecken oder diese Views einfach clever programmiert sind, ist schwer herauszubekommen.
Eine Übersicht über die steigenden Klickzahlen und die "Likes" des Wicklein-Videos. | © Screenshot.
Das Video von Andrea Wicklein wird nicht nur wie verrückt auf YouTube geklickt, sondern auch auf Twitter verbreitet. Nutzer aus Russland, Spanien, Polen, Vietnam und Frankreich schreiben dort, wie sehr ihnen das Video gefällt und posten den Link.
Nico Marquardt, der Produzent des
Videos, ist auf Twitter extrem gut vernetzt. 370.000 Menschen folgen ihm
– das sind wesentlich mehr als beim DFB-Team, dem Fußballer Boateng oder
Dieter Nuhr. In den Rankings der meistgefolgten Twitterer taucht
Marquardt allerdings nicht auf. Auch selbst twittert er kaum. Er folgt nur 93
Leuten. Ein solches Verhältnis von 370.000 Follower, wenigen Tweets und 93
selbstgefolgten Leuten ist sehr ungewöhnlich. Trotzdem ist Marquardts
Account von Twitter verifiziert, das heißt, er wurde als besonders wertvoll
eingestuft. Schauspieler, Musiker und Politiker werden von Twitter verifiziert. Privatpersonen hingegen selten.
Wie kommt ein 19-Jähriger dazu, von Twitter verifiziert zu werden? Twitter selbst äußert sich dazu nicht, Marquardt erklärt das wie folgt: Er interessiere sich für Raumfahrt und veranstalte regelmäßig Tweet-ups, also öffentliche Diskussionen auf Twitter mit relevanten Akteuren. Im August zum Beispiel diskutierte er mit Mars One, einer Non-Profit-Organisation, die bis 2023 Menschen auf den Mars bringen will. "Warum sollten wir auf den Mars? Gibt es bereits die Technologie für die Mars-Invasion?", solche Fragen stellte er öffentlich, so dass jeder der Unterhaltung folgen konnte.
Nur sehen die wenigsten seiner über 370.000 Follower so aus, als interessierten sie sich für den Mars: Ein Großteil der angeblichen Follower hat kryptische Namen wie @marinaD09032745, @tinishapoolefgg oder @rosszqq und stammt aus dem Ausland: Indonesien, USA, Puerto Rico. Viele haben zwar ein Foto, allerdings keine Selbstbeschreibung, extrem wenig Tweets und wenige eigene Follower.
Nur sehen die wenigsten seiner über 370.000 Follower so aus, als interessierten sie sich für den Mars: Ein Großteil der angeblichen Follower hat kryptische Namen wie @marinaD09032745, @tinishapoolefgg oder @rosszqq und stammt aus dem Ausland: Indonesien, USA, Puerto Rico. Viele haben zwar ein Foto, allerdings keine Selbstbeschreibung, extrem wenig Tweets und wenige eigene Follower.
Die Zahl der Follower schwankt
Es gibt einige Tools, die helfen, Fake-Accounts zu entlarven. Der Twittercounter überprüft Accounts und zeigt, wie sich die Followerzahl entwickelt. Im Fall von Marquardt zeigt es, dass er im August noch knapp 380.000 Follower hatte und 10.000 davon innerhalb weniger Tage verlor. Wenn Twitter entdeckt, dass Follower gekauft wurden, werden die verdächtigen Accounts manchmal gelöscht.
Der Twittercounter überprüft den Followerverlauf der letzten drei Monate. | © Screenshot
Ein anderes Tool überprüft, wie real die Follower einer Person sind. Im Falle von Marquardt ergibt das 78 Prozent Fake-Accounts, 20 Prozent inaktiv und 2 Prozent echt.
Marquardts Faker Score ist extrem hoch: Offenbar sind 78 Prozent der Accounts, die ihm folgen, nicht echt. | © screenshot
Es spricht also einiges dafür, dass der Twitteraccount von Marquardt nicht so echt ist, wie er auf den ersten Blick aussieht. Aber gilt das auch für das Video von Andrea Wicklein?
Gesprochen wird das Video von Michael Braumann, Moderator im
Inforadio vom RBB. Er ist entsetzt, als er hört, dass das Video
öffentlich ist. Marquardt habe ihn kontaktiert, weil er mit einer
Freundin seiner Mutter zusammengearbeitet hat. Braumann verstand
Marquardts E-Mail so, dass es um ein Schulprojekt geht, das nicht
veröffentlicht werden soll. "Nie hätte ich ein SPD-Video besprochen",
sagt er.
Wer hat ein Interesse an den manipulierten Zahlen?
Immerhin: Im Abspann des Spots steht "Alle Rechte vorbehalten, SPD 2013" – also doch ein offizielles SPD-Video? Der SPD-Landesverband Brandenburg bestreitet das. Außerdem stellt sich die Frage, was die SPD davon hätte, die Klickzahlen des Videos zu manipulieren, wenn dahinter gar keine echten Zuschauer stehen.
Die gleiche Frage stellt sich aber auch
für Nico Marquardt. Ist der 19-Jährige einfach scharf darauf, sich in den Medien auszutauschen?
Die Berliner Zeitung berichtete vor drei Tagen über Nico Marquardt und seine
Freunde, die der "neuen Generation angehören, die im Internet groß geworden ist"
und deswegen "das schaffen, woran seit Wochen Dutzende von Mitarbeitern in den
Wahlkampfzentralen arbeiten".
Marquardt beharrt darauf, dass die Klickzahlen echt sind. Handfest
kann man ihm etwas anderes auch nicht nachweisen. Eines hat er damit auf
jeden Fall geschafft: Interesse auf sich zu ziehen.
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