Friedemann Goerl sorgt in Leipzig als Fußverkehrsbeauftragter für kurze und sichere Fußwege. Dafür setzt er, passend zur Profession, auf viele kleine Schritte.
G + L: Guten Tag Herr Goerl. Warum sind Fußgänger für Städte so wichtig?
F. G.: Sie sind die Basis der Stadt und des urbanen Lebens. Und Fußverkehr ist, verglichen mit anderen Verkehrsarten, kosten- und ressourcensparsam. Er verbraucht wenig Platz und hat positive Auswirkungen auf die Wirtschaft und die soziale Sicherheit. Eine Stadt ist also auf Fußverkehr angewiesen, um lebendig zu bleiben.
G + L: Den meisten ist Leipzig vor allem als Fahrradstadt ein Begriff – ist zu Fuß gehen besser als Fahrrad fahren?
F. G.: Nein, und es geht auch nicht darum, Fuß- und Radverkehr in Konkurrenz zu setzen. Wir wollen als Stadt den Umweltverbund insgesamt stärken, also ÖPNV, Radverkehr und Fußverkehr. Die Radverkehrsförderung darf aber nicht zu Ungunsten der zu Fuß Gehenden erfolgen. Als planerischer Grundsatz gehören Fuß- und Radverkehr also nicht auf die gleichen Flächen, weil sie unterschiedliche Ansprüche und Geschwindigkeits-Niveaus haben. Wir wollen möglichst gute Lösungen für alle Nutzergruppen finden. In Leipzig gibt es deshalb sowohl einen Radverkehrsbeauftragten, als auch einen Fußverkehrsverantwortlichen.
Leipzig soll Stadt der kurzen Wege werden. Welche Aspekte beachten Sie dafür in der Planung?
F. G.: Besonders drei: Verkehrssicherheit, Barrierefreiheit und Nachhaltigkeit. Die Barrierefreiheit ist ein Ziel, das alle deutschen Städte gemäß der UN-Behindertenkonvention umsetzen, es geht um den Anspruch "Design for all". Wir fangen punktuell an, denken den Wandel als langfristiges Ziel aber flächendeckend. Die erste Etappe besteht zum Beispiel darin, alle Haltestellen barrierefrei auszubauen. Aber da darf es nicht enden, denn Fahrgäste steigen ja nicht aus und lösen sich in Luft auf. Der komplette Fußverkehr muss also barrierefrei sein. Dafür brauchen wir eine netzartige Planung, einen Fußverkehr, der der Hauptrichtung des Verkehrs folgt. Wir müssen teilweise auch die Prioritäten anders setzen. Ich nehme mal das Beispiel Einkaufsstraße: Da würden durchgezogene Gehwege, die auch über einmündende Nebenstraßen gehen, den Fußverkehr stärken.
In punkto Verkehrssicherheit ist unser großes Ziel die "Vision Zero", also: keine Verkehrstoten mehr und auch die Senkung der Schwerverletzten-Zahl. Das ist ebenfalls ein langfristiges Ziel. Wir erreichen es schrittweise, wenn wir Kinder, Senioren und Menschen mit Einschränkungen als Nutzergruppen besonders in den Fokus nehmen. Denn sie haben ein viel höheres Sicherheitsbedürfnis als andere Gruppen. Es fängt mit gesicherten Querungsmöglichkeiten an. Früher galt bei Lichtanlagen als oberste Priorität, den Verkehr flüssig zu halten. Nach einer Gesetzesnovelle ist nun Sicherheit wichtiger als schnelle Abwicklung und Räumzeiten. Die flächenhafte Überprüfung der Anlagen für Fußverkehr wäre hilfreich: Wie lange müssen Fußgänger auf einer Mittelinsel warten? Wie viele Ampel-Durchgänge braucht es, damit sie überhaupt queren können? Auch die Gehweg-Instandhaltung ist eine kurzfristig umsetzbare Maßnahme, die zur Sicherheit beiträgt.
Besonders die Sicherheit für kleine Kinder zu gewährleisten, wenn nebenher auf der Straße der Verkehr braust, klingt schwierig.
F. G.: Das stimmt, deshalb müssen Kinder noch viel mehr in die Stadtplanung einbezogen werden. Eine Stadt ist aus Kindersicht erst dann attraktiv, wenn zum Beispiel unbeschwertes Roller- oder Dreiradfahren auf dem Fußweg funktioniert. Dafür müssen wir zwingend umdenken. Die Verantwortung für die Sicherheit darf nicht den schwächsten Verkehrsteilnehmern aufgebürdet werden. Es gibt die bundesweite Debatte um Tempo 50 in bebauten Gebieten. Ist es überhaupt angebracht, wenn Studien zeigen, dass das Unfallrisiko um ein Vielfaches höher ist als bei Tempo 30? Meiner Meinung nach braucht es da umgedrehte Prioritäten: Überall gilt Tempo 30 und die Beweislast, dass auch Tempo 50 funktioniert, liegt bei den Behörden.
Wir haben vor allem vor Schulen und Kindergärten zunehmend Probleme: Das berühmte Elterntaxi will die Kinder am liebsten bis ins Klassenzimmer fahren, das fühlt sich sicher an. Aber nur wegen der vielen Autofahrer ist es dort oft gefühlt so gefährlich. Eine Lösung sind Bring- und Hol-Zonen, von denen aus die Kinder sicher laufen können. In Hannover läuft übrigens derzeit ein Modell-Projekt, bei dem Straßen direkt vor Schulen temporär aus dem Autoverkehr rausgenommen werden.
Sie haben als dritten Aspekt die Nachhaltigkeit genannt – was spielt sie bei der Fußverkehrsplanung für eine Rolle?
F. G.: Leipzig hat in seinem Nachhaltigkeitsszenario 2030 beschlossen, den Umweltverbund massiv zu stärken. Aus ökologischer Sicht ist Fußverkehr super, weil kein zusätzliches CO2 emittiert wird und Bewegung gesund ist. Wir wissen, dass Fußgänger aber ein Ziel brauchen – Läden, Grünflächen und Co. Das meinen wir mit "Stadt der kurzen Wege". Der Fußverkehr stärkt dann auch die lokale Wirtschaft.
Was sind die wichtigsten Punkte in Leipzigs Fußverkehrsstrategie?
GF. G.: Zum einen, barrierefreie öffentliche Räume und Teilhabemöglichkeiten für alle Bevölkerungsgruppen am öffentlichen Leben zu gewährleisten. Wir brauchen eine Entwicklung von belebten und urbanen Quartieren mit einer hohen Qualität, Nutzungsmischung und Dichte. Eine konsequente Substitution kurzer Autofahrten durch den Fußverkehr. Eine gerechte Aufteilung des öffentlichen Raumes. Eine kinder- und familiengerechte Stadt. Eine bessere Verknüpfung und Zugänglichkeit des ÖPNV. Und insgesamt wollen wir den Anteil des Fußverkehrs am Modal Split stabilisieren. Hierfür ist es auch notwendig, den Fußverkehr durch eine gleichwertige Verteilung der kommunalen Ressourcen von Mitarbeitern und Finanzen adäquat zu berücksichtigen.
Welche Maßnahmen sind leicht umzusetzen und welche schwieriger?
F. G.: Prinzipiell setzt die Förderung des Fußverkehrs sich aus vielen kleinteiligen Maßnahmen zusammen. Ich kann als Planer schnell handeln, mit einem viel kürzeren Zeithorizont als beispielsweise im ÖPNV bei der Planung einer neuen Straßenbahnstrecke. Zebrastreifen, Bordsteinabsenkungen und Gehweg-Reparatur lassen sich zügig planen. Ein Fallstrick ist eher die personelle Untersetzung. Auch eine Mittelinsel kann ich nicht einfach bauen, sondern brauche planerische Arbeit im Hintergrund und dann natürlich Baufirmen für die Umsetzung.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Fußverkehrs?
F. G.: Die Verkehrswende im Kopf, denn Verkehrsplanung betrifft neben den baulichen Aspekten vor allem eine Philosophie. Fußverkehr wird häufig belächelt, dabei ist er so wichtig für unser urbanes Zusammenleben. Ich wünsche mir, dass er mit der Relevanz betrachtet wird, die er verdient. Da lässt sich viel von der Schweiz und Österreich abschauen.
Die Stadt
Leipzig hat eine kompakte und durchmischte Siedlungsstruktur und mit gut ausgebauten autofreien Wegenetzen in den großen Neubaugebieten viel Potenzial für den Fußverkehr. Nach der Wiedervereinigung sank der Fußverkehrsanteil von 39,5 Prozent (1991) auf 25,4 Prozent (2015). Die Stadt will ihn bis 2025 auf 27 Prozent erhöhen.
Der Planer
Friedemann Goerl, 29, Geographie mit Schwerpunkt Städtische Räume und Mobilität studiert. Nachdem er sich in der der Stadtverwaltung Chemnitz mit Radverkehr beschäftigte, wechselte er nach Leipzig. Seit 2018 ist er Fußverkehrsverantwortlicher und zuständig für die Förderung des Fußverkehrs. Seine Position ist im Verkehrs- und Tiefbauamt angesiedelt, im Fachbereich Nahverkehr.