Anne Baum

Freie Journalistin, Hamburg

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Artikel

WG im Alter: "Noch fehlen die Hühner"

In meinen Beruf als Pfleger sah ich jeden Tag, wie schlimm es sein kann, alt zu sein. Ich fuhr im ambulanten Dienst zu den alten Menschen nach Hause, kümmerte mich um sie, soweit meine Zeit es zuließ. Doch meist hetzte ich von einem zum anderen. Manchmal dachte ich darüber nach, wie viel schöner es wäre, alte Menschen in einer Wohngemeinschaft zu pflegen, vielleicht sogar auf einem Bauernhof. An mich selbst dachte ich da nicht. Für einen jungen Mann liegt die in endloser Ferne. Doch es war meine Arbeit, die dazu führte, als Rentner alles anders zu machen und eine Selbstversorger-WG zu gründen. Besonders eine Erfahrung prägte mich dabei.

Auf einer Tour hatte ich einen alten dementen Mann zur Pflege, der allein zu Hause lebte und die meiste Zeit in einem Gitterbett verbrachte. Das Bett stand in der Mitte des Wohnzimmers, weil er alles um sich herum umwarf und abräumte. Eingenässte Schutzhosen riss er sich ständig herunter, sodass Fäkalien ins Bett gelangten. Das kostete ihn die Nachtruhe, tagsüber war er durch den Schlafmangel noch verwirrter.

Von seinem alten Leben erzählen konnte er schon lange nicht mehr. Siebenmal am Tag kamen ich oder meine Kollegen vom Pflegedienst zu ihm. Aber das reichte nicht für ein würdiges Leben. In derselben Straße wohnte seine Adoptivtochter. Warum sie nie auftauchte und sich kümmerte, weiß ich nicht. Eines Tages rief ich den Hausarzt des Patienten zur Visite und erzählte ihm von meiner Idee einer Wohngemeinschaft für Pflegebedürftige. Er war begeistert und bot mir eine passende Wohnung an. Ich schaute sie mir noch am selben Nachmittag an. So gründete ich im Jahr 2006 eine Pflege-WG. Der einsame Mann wurde der erste Bewohner.

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24 Stunden lang waren entweder ich oder einer meiner Kollegen in der Wohnung. Unser Ziel war es, mit den Bewohnern zu leben - zusammen einkaufen, essen oder auch mal fernsehen. Gleich in meinem ersten Nachtdienst wagte ich ein Experiment. Ich stellte einen Toilettenstuhl neben das Bett des dementen Mannes und ließ das Bettgitter unten. Dann legte ich mich im Nebenraum schlafen - als langjähriger Pfleger wache bei den kleinsten Geräuschen auf. So hörte ich in der Nacht, wie der Mann aufstand, sich auf den vorbereiteten Toilettenstuhl setzte, urinierte, wieder ins Bett ging und weiterschlief. Weil er nun eine "trockene Nacht" hatte, konnte er wieder gut schlafen.

Von diesem Tag an wurde alles besser. Ich wusch ihn nicht mehr, sondern unterstützte ihn dabei, sich selbst zu waschen. Irgendwann rasierte er sich selbstständig, setzte sich zu uns an den Tisch und half den anderen Mitbewohnern. Davor arbeitete ich als Altenpfleger mit Menschen, denen es jeden Tag schlechter ging, bis in ihren Gesichtern der Tod auftauchte. In der Wohngemeinschaft war das anders. Die Bewohner spürten wieder einen Sinn in ihrem Leben. Es war wie Pflegen rückwärts, und für mich blieb die Erkenntnis: Eine Aufgabe und eigene Verantwortung zu haben hilft dagegen, einzurosten.

Im Jahr 2016 wurde ich 60 Jahre alt und die Rente rückte näher. Die Idee einer Wohngemeinschaft auf dem Land geisterte noch immer in meinem Kopf herum. Ich träumte von einer Selbstversorger-WG. Gemeinsam Hühner und andere Tiere halten, einen Garten bewirtschaften, am Hof herumwerkeln: Genug Aufgaben und Ansporn, um im Alter fit zu bleiben. Rückzugsorte durch getrennte Wohnungen sollte es geben, aber auch Gemeinschaftsräume. Kochen, lachen und vielleicht auch gemeinsam ins Theater gehen. Das suchte ich und machte mich auf die Suche, um diesen Ort zu finden.

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