Manchmal brülle ich "Arschloch" oder "Heil Hitler". Einfach so. Im Bus, in der Innenstadt, beim Spaziergang durch den Park. Das provoziert, verstört, es macht Menschen Angst. Aber ich denke nicht, dass andere Wörter etwas ändern würden. "Goldtaler" zu rufen wäre wahrscheinlich genauso skurril. Ich will nicht provozieren oder schreien. Doch ich kann nicht anders. Ich habe Tourette, eine neuropsychiatrische Erkrankung. Woher sie genau kommt, weiß man nicht. Wahrscheinlich werden im Gehirn bestimmte Impulse nicht unterdrückt. Das Tourette kommt aus mir heraus, wann immer es will. Ich kann es nicht einsperren, auch wenn ich mir das wünsche: Die Wörter entsprechen eigentlich nie meiner Meinung.
Ich war zehn Jahre alt, als die ersten Tics anfingen. Erst Augenzwinkern, dann kam ein Hüsteln dazu, später begann der ganze Körper zu zucken. Es fühlte sich komisch an, ich konnte mich nicht kontrollieren. Aber ich hatte Glück: Viele machen eine jahrelange Odyssee durch bis zur Diagnose. Bei mir erkannten es die Ärzte sofort. Während der Schulzeit waren meine Tics noch schwächer und weitestgehend ohne Schimpfwörter. Nur die ältere Lehrerschaft meiner Schule beäugte mich misstrauisch, aber von den Mitschülern störte das niemand. Später war ich auf einem Internat. In dieser Zeit gab es überhaupt keine Probleme mit meinen Tics.
Jetzt sind meine Tics stärker. Ich zucke mit Armen, Beinen, manchmal auch dem Kopf. Dazu brülle ich Beschimpfungen. Einmal blieb ein Mann auf der Straße stehen und sagte zu mir: "Dich hat Adolf wohl vergessen." Ein anderes Mal warf mich der Fahrer aus dem Linienbus. Ich wohne in einem Haus in Lüneburg. Ein Paar aus der Nachbarschaft wollte mir die Tics verbieten - dafür zogen sie sogar bis vor das Gericht. Natürlich verloren sie den Prozess, es ist schließlich eine Krankheit. Leider hatte sich mein Tic geändert: Ich brüllte in Kombination mit dem Nachnamen der Nachbarn das böse Wort "Arschloch".
Die meisten Menschen reagieren respektvoll auf meine Tics. Trotzdem ist es für mich ein Spießrutenlauf, durch die Stadt zu gehen. Ich weiß nie, was als Nächstes passiert. Schimpfen sie? Erschrecken sie sich? Sobald ich auf viele Menschen treffe, verstärken sich meine Tics. Deshalb bleibe ich meistens zu Hause und meine Freunde kommen zu mir. Auch kann ich als Mediengestalter zum Glück im Homeoffice arbeiten. Nebenbei betreibe ich eine Webseite zur Aufklärung über Tourette. Mein Bildschirm ist hinter einer Scheibe aus Polycarbonatglas, damit ich ihn nicht während eines meiner Tics zerstöre. Der Schreibtisch ist gepolstert, falls ich mal mit dem Kopf aufschlagen sollte.
Vor mehr als vier Jahren fragte mich die Regisseurin Helgard Haug von der Künstlergruppe Rimini Protokoll, ob ich Lust hätte, bei einem Hörspiel mitzumachen. Ich sagte zu. Das klang nach gemütlich auf dem Sofa sitzen und ein wenig plaudern. Doch sie hatte anderes im Sinn. Das Hörspiel nahmen wir in meinem VW-Bus auf und tourten dabei durch Deutschland - es gewann den Deutschen Hörspielpreis. Noch während des Schnitts versuchte die Regisseurin mich für ein Theaterstück zu gewinnen.
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Niemals hätte ich mir vorstellen können, mal auf der Bühne zu stehen. Hunderte Menschen, die mich anstarren, mehrere Wochen woanders wohnen, zu Proben fahren. Unmöglich. Noch schlimmer: Ich malte mir aus, wie ich das Stück zerstöre. Nicht ich, aber mein Tourette durch übertrieben starke Tics. Am Ende überzeugte mich ein Satz der Regisseurin: Sie sagte, alles sei möglich. Und meine damals 13-jährige Tochter. Sie bat mich, es unbedingt zu machen, ansonsten sei sie mir böse.