Anne Baum

Freie Journalistin, Hamburg

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Artikel

Kinder von Samenspendern: "Ich könnte mehrere Hundert Geschwister haben"

Ich hatte nie Vorahnungen. Für mich waren meine Eltern immer nur meine Eltern, obwohl ich die Einzige in der Familie war, die braune Augen hatte. Doch dann kam dieser eine Tag, der meine bisherige Welt ordentlich durchrüttelte.

Damals war ich 15, und meine Eltern waren schon seit ein paar Jahren getrennt. Trotzdem saßen wir an diesem Tag alle am Esstisch in unserem Haus versammelt: meine Mutter, mein Vater, mein Bruder und ich. Meine Eltern waren angespannt, sie wollten uns etwas mitteilen. Meine Mutter fing an zu weinen. Sie erzählte uns, wie sie einen großen Kinderwunsch hatte, doch unser Vater sterilisiert war. Sie versuchten die Sterilisation rückgängig zu machen. Aber es klappte nicht. Dann sagten sie, dass unser Vater nicht unser leiblicher Vater ist. Ich fing an zu weinen. Mein erster Gedanke war, dass meine Mutter fremdgegangen ist.

Vielleicht wäre das besser gewesen. Dann hätte ich sichergehen können, dass sie meinen leiblichen Vater gemocht hat. Doch ich wurde durch eine Samenspende gezeugt, genauso wie mein Bruder. Von einem anonymen Spender. Oder noch wahrscheinlicher: Von zwei unterschiedlichen Spendern, aber das war zu dem Zeitpunkt nur eine Vermutung meiner Eltern. Nach dem Gespräch gingen mein Bruder und ich in unsere Zimmer nach oben. Und ließen unsere Identität zersprungen zurück.

Plötzlich wusste ich nicht mehr, wer ich bin. Was war von meiner Mutter? Was war vom Spender? Was von mir? Als Teenager ist es besonders schlimm. Da hadert man sowieso mit seiner Identität. Zu dem Zeitpunkt verglich ich mich sogar mehr mit meinem Vater, weil er ein ruhigeres Gemüt hat. Später identifizierte ich mich umso mehr mit meiner Mutter, um so meine Identität zurückzugewinnen.

Ich wollte unbedingt wissen, was das andere war, und ekelte mich vor dem Unbekannten in mir. Aber mein biologischer Erzeuger stand nicht einfach auf einem Zettel. Zwar gab es 2015 ein Urteil, dass Spenderkinder ein Recht auf ihre Herkunft haben. Aber dafür muss es Unterlagen geben. Einmal fragte mein Bruder bei "unserer" Klinik nach. Angeblich hat eine Überschwemmung alle Daten gelöscht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das glaube. Vielen Ärzten war der Schutz der Spender wichtiger als die Spenderkinder. Heute ist das anders. Seit vier Jahren gibt es ein Melderegister für Samenspender.

Jahrelang fragte ich mich, wessen Gene ich in mir trage. Ob Erbkrankheiten in mir schlummerten und welche Eigenschaften nicht anerzogen sind. Bis ich meinem Bruder und mir vor zwei Jahren ein DNA-Kit zu Weihnachten schenkte. Damit kann man seine DNA einschicken und so Verwandte finden, die auch ihre DNA eingeschickt haben. Dann ging alles ganz schnell. In meinem Postfach ploppte drei Wochen nach dem Einschicken eine Mail auf. Es gab zwei Matches in der Datenbank: 28 Prozent und 50 Prozent. Das sind die Verwandtschaftsgrade. Ich hatte meinen biologischen Vater gefunden. Und einen Halbbruder, Onkel oder Neffen väterlicherseits. Ich wollte nichts überstürzen und schrieb erst einmal nur den Zweiten an. Er antwortete sofort.

Am nächsten Tag telefonierten wir. Er war mein Halbbruder, und es fühlte sich sofort vertraut an - vielleicht weil wir das gleiche Schicksal teilten. Ich erfuhr, dass ich noch eine Halbschwester und zwei Halbbrüder habe. Auf meine Nachfrage erfuhr ich, dass sie auch alle eher ordentlich sind und strukturiert arbeiten. Nach dem Gespräch fühlte ich mich glücklicher denn je.

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