Wenn Irene eines mit Sicherheit weiß, dann ist es, dass sie nirgends sicher ist. Schon gar nicht im Urlaub. Im Urlaub ist alles anders, und das bedeutet Stress. Stress, das hat sie gelernt, ist nicht gut. Trotzdem ist sie mit ihrem Freund nach Ischia gefahren, es ist ihr erster Urlaub seit zwei Jahren, sie spazieren am Hafen entlang wie einst Matt Damon und Gwyneth Paltrow in „Der talentierte Mr. Ripley". Auf einem der Bilder, die sie auf Instagram postet, thront das Castello Aragonese unter einem wolkenverhangenen Himmel. „Ich muss mich kneifen, wenn ich das sehe", schreibt Irene, „endlich bin ich hier." Abends essen sie Pasta e fagioli.
Es dauert zwei Tage, bis „es wieder böse wird". Das sind die Worte, die Irene gefunden hat für den Schmerz; nicht den, der sowieso immer da ist, sondern den stechenden, brennenden Schmerz, der dafür sorgt, dass sie sich zusammenkrümmt, als habe ihr jemand ein Messer in den Unterleib gerammt. Sie ist am Strand, sie will nur kurz schwimmen gehen. Als sie in das türkisblaue Wasser eintaucht, ist er plötzlich da. Manchmal wird der Schmerz so stark, dass sie denkt: So muss es sich anfühlen, wenn man stirbt. Sie braucht einen ganzen Tag, bis es ihr wieder besser geht.
Leben mit EndometrioseDrei Wochen sind vergangen, als Irene davon erzählt. Sie sitzt in einem Café in Prenzlauer Berg, vor sich ein Glas Kakao mit Hafermilch, sie sieht aus wie eine ganz normale junge Frau, 35 Jahre alt, ein bisschen schmal, das ja, ein wenig blass, aber nicht krank. „Heute ist ein Okay-Tag", sagt sie, das heißt, der Schmerz ist bei einer Eins oder Zwei. Aber jeden Moment kann es wieder anders sein, wie an jenem Tag, als sie im Golf von Neapel schwamm und der Schmerz zu einer Zehn hochschnellte.
Auf dem Tisch liegen Kopfhörer und eine Bauchtasche, wie sie viele in Berlin gerade tragen. Irene bewahrt darin ein Fläschchen auf, das einzige Schmerzmittel, das ihr hilft. „Ohne das gehe ich nirgendwo hin."
Vielleicht war es auf Ischia die Kälte des Wassers gewesen, die den Schmerz ausgelöst hat, vielleicht war es eine verzögerte Reaktion ihres Körpers auf die Strapazen der Anreise. Irene weiß es nicht, die Ärzte wissen es auch nicht. Zumindest kennt sie seit zwei Jahren die Ursache ihrer Schmerzen: Endometriose.
Irene lebt mit einer Krankheit, die Wissenschaftler als „Chamäleon" bezeichnen oder als „Puzzle", weil ihre Symptome so vielseitig sind. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie schreibt in ihren Leitlinien: „Die Endometriose ist eine für Ärzte und betroffene Patientinnen gleichermaßen verwirrende Erkrankung." Eine „kausale Therapie" sei „bisher nicht bekannt". Im Durchschnitt dauert es sechs Jahre, bis die Krankheit diagnostiziert wird. Bei Irene waren es fast zwei Jahrzehnte.
Es ist wertvolle Zeit, die da verstreicht. Zeit, in der Endometriose sich ausbreiten kann, bis sie kaum noch behandelbar ist; in der Betroffene unvorstellbare Schmerzen leiden, ohne zu wissen, was die Ursache ist.
Endometriose ist keine seltene Krankheit. Sie ist ähnlich verbreitet wie Diabetes. Mit einem Unterschied, der viel damit zu tun hat, warum sie wie ein blinder Fleck im Gesundheitssystem sitzt: An Endometriose erkranken fast ausschließlich Frauen.
Eine Geschichte über diese Krankheit ist also auch eine Geschichte darüber, wie wir in unserer Gesellschaft mit dem Leiden von Frauen umgehen. Schon wenn man die Zahlen anschaut, wird deutlich: nicht gut. In Deutschland erkrankt in etwa jede zehnte Frau im Laufe ihres Lebens an Endometriose, jedes Jahr kommen 30 000 neue Fälle hinzu. Weltweit leben schätzungsweise 176 Millionen Frauen mit der Krankheit. Die meisten haben vor ihrer eigenen Diagnose noch nie von der Krankheit gehört.
Was ist Endometriose?Endometriose ist eine systemische, entzündliche Erkrankung, bei der sich Zellen an den Eierstöcken, der Blase, dem Darm oder dem Bauchfell festsetzen, die der Gebärmutterschleimhaut, dem Endometrium, ähneln. Sie bilden dort Muskelgewebe, verbinden sich mit Nervenzellen und reagieren auf die hormonellen Schwankungen im Zyklus der Frau wie die Gebärmutter: Sie bluten, wenn die Frau ihre Regel bekommt - und können so heftige Schmerzen verursachen. Sie führen außerdem zu Verwachsungen, die für bleibende Schäden an den betroffenen Organen und Unfruchtbarkeit sorgen können.
Wenn Frauen ungewollt kinderlos bleiben, ist die Ursache in 40 bis 60 Prozent der Fälle Endometriose - es ist oft der Moment, wo Ärzte erstmals gezielt danach suchen. Doch für viele Frauen beginnt der Leidensweg viel früher, mit der ersten Periode.
Irene blutete stark, seit sie mit vierzehn ihre Regel bekam, nachts wechselte sie ihre Binden jede Stunde. „Ich habe gedacht, so ist das halt", sagt sie. Sie wuchs im Norden von Spanien auf, in einem Dorf in der Nähe von Salamanca. Ihre Familie war nicht religiös, über die Menstruation sprach man trotzdem nicht, nicht zwischen Mutter und Tochter, nicht unter Freundinnen. „Ich litt still vor mich hin", sagt Irene. Sie dachte, anderen Frauen ginge es genauso. Vielleicht stellte sie sich zu sehr an. Einmal, da lebte sie schon in einem Studentenwohnheim in Madrid, durchweichte das Blut den Matratzenschutz, auf dem sie immer schlief, und die Matratze darunter. Ruf einfach jemanden an, der sie abholt, sagte ihre Mutter am Telefon.
Sie habe halt ihre Regel besonders stark, sagte die Gynäkologin, verschrieb ihr die Pille und Spritzen gegen Eisenmangel.
Die Pille machte es ein wenig besser. Davor hatte Irene kaum die Seminare an der Uni besuchen können, weil sie ständig müde war und tagelang so heftige Krämpfe hatte, dass sie nicht klar denken konnte. „Ich habe Ibuprofen gegessen wie Bonbons."
Die Pille linderte zwar ihre Beschwerden, aber Irene vertrug sie nicht, sie nahm zwanzig Kilo zu, ihre Beine schwollen an, sie litt unter hohem Blutdruck und fühlte sich seltsam, „nicht wie ich selbst", sagt sie. Als sie die Pille absetzte, kamen zu den Regelschmerzen Durchfall und Bauchschmerzen hinzu, außerdem Schmerzen in den Muskeln und im Rücken. Dass beides miteinander zusammenhängen könnte, darauf kam niemand. Die Hausärztin attestierte ihr ein geschwächtes Immunsystem und vermutete als Ursache Stress. Klar, das passte, Irene war Anfang zwanzig, gerade nach Berlin gezogen, sie hatte einen neuen Job und stritt häufig mit ihrem Freund. Stress ist eine Diagnose, die auf so gut wie jede junge Frau in dieser Stadt zutreffen dürfte.
Menstruationsschmerzen sind nicht normalEs gibt Studien, die zeigen, dass bei Frauen häufiger als bei Männern eine psychische Ursache hinter körperlichen Beschwerden vermutet wird. Zudem werden Frauen, die Schmerzen haben, weniger ernst genommen. In der Notaufnahme warten Frauen im Durchschnitt 16 Minuten länger auf schmerzstillende Mittel als Männer, wenn sie überhaupt welche bekommen. Auf der anderen Seite werden Frauen mehr als doppelt so häufig wie Männer mit Antidepressiva behandelt.
Bei Irene kam dieser Punkt, als sie das Berliner Schmerzzentrum aufsuchte. Sie war bereits auf Fibromyalgie untersucht worden, auf Arthritis, Lyme-Borreliose und Morbus Bechterew. Ein Orthopäde verordnete ihr Sport, sie verbrachte zwei Wochen in der Parkklinik Weißensee, wo sie Wassergymnastik mit Rentnern machte. Ein Rheumatologe steckte sie ins MRT und schloss danach Rheuma aus. Irgendwann dachte Irene, sie werde verrückt. Das Schmerzzentrum war ihre letzte Hoffnung, ein junger Arzt, sagt sie, habe sich zehn Minuten mit ihr unterhalten und ihr dann Antidepressiva angeboten, sonst könne er nichts für sie tun, ihre Symptome seien psychosomatisch. Danach ging sie zwei Jahre lang nicht mehr zum Arzt.
Es gibt Frauen, die schneller als Irene an einen Arzt geraten, der die richtigen Schlüsse zieht. Aber selbst die erzählen ähnliche Geschichten: von Frauenärzten, die ihre Schmerzen nicht ernst nehmen, ihnen die Pille als Therapie verschreiben - was nicht nur die Endometriose nicht heilt, sondern auch mit starken Nebenwirkungen verbunden sein kann; die Frauen haben dann zwar keine Schmerzen mehr, leiden dafür aber unter Depressionen.
Am Ende werden Frauen ausgerechnet von denen alleingelassen, die für ihre Gesundheit zuständig sind. „Frauen mit Endometriose sind sehr auf sich selbst zurückgeworfen", sagt Martina Schröder vom Feministischen Frauengesundheitszentrum in Schöneberg Frauen mit Endometriose berät. Seit Mitte der 70er-Jahre, einer Zeit, in der sich die Gynäkologie nahezu ausschließlich in Männerhand befand, können Frauen hier Antworten auf gesundheitliche Fragen bekommen, zum Thema Endometriose gibt es eine eigene Broschüre. Damals veranstalteten Frauen Workshops, in denen sie sich beibrachten, wie man seine Vagina selbst untersucht; diese Kurse gibt es bis heute.
Und sie sind sehr gefragt. Noch immer, sagt Schröder, ist das Nichtwissen über den eigenen Körper bei jungen Frauen groß. „Was wir oft hören: Mir wurde immer gesagt, Menstruationsschmerz ist normal", sagt Schröder. „Er ist aber überhaupt nicht normal!" Es könne mal ziehen, ja, aber starke Schmerzen seien immer ein Warnzeichen.
Woran erkennt man Endometriose?Es ist nicht ganz einfach, Endometriose zu erkennen. Es gibt keine Marker im Blut (wie bei Diabetes), es braucht Sorgfalt und Erfahrung, um Endometrioseherde zu ertasten oder auf einem Ultraschallbild zu erkennen. Je länger die Patientinnen leiden, desto diffuser werden die Beschwerden. Sie sind dann auch nicht mehr an den Zyklus gekoppelt, und nicht jede Patientin kann präzise darüber sprechen, wo was wann wehtut.
Es braucht dann jemanden, der weiß, wonach er fragen muss: nach diesen ersten Perioden, die schon so schmerzhaft waren, dass die jungen Frauen in der Schule fehlten. Nach den Blutungen, nach Schmerzen beim Wasserlassen, beim Stuhlgang, beim Sex.
Wenn Sylvia Mechsner, Leiterin des Endometriosezentrums an der Charité, Sprechstunde auf dem Campus Virchow in Wedding hat, empfängt sie die Patientinnen in einem schmalen Raum, in dem nicht mal Platz für eine Umkleidekabine ist. „Kabüffchen" nennt sie es. Ihr Büro ist nicht viel größer, sie teilt es mit einer anderen Professorin. 800 Patientinnen sieht sie im Jahr, derzeit warten Frauen drei Monate auf einen Termin.
Für ein Erstgespräch brauche sie selten unter einer Stunde, „sonst bin ich nicht zufrieden mit meiner Arbeit". Viele Frauen kommen nach langen Leidenswegen zu ihr, festgehalten in dicken Patientenakten; aber auch wenn sie das Glück haben, früh bei ihr zu landen - gerade bei jungen Frauen, sagt sie, müsse sie behutsam vorgehen, viel erklären.
All das kostet Zeit. Und Zeit wird im deutschen Gesundheitssystem nicht vergütet. Niedergelassene Ärzte können sich ausführliche Anamnesen, wie Sylvia Mechsner sie macht, kaum leisten.
Endometriose rentiert sich nichtAndreas D. Ebert, der das Zentrum an der Charité vor bald zwanzig Jahren gegründet hat und Sylvia Mechsner als junge Assistenzärztin in sein Team holte, wundert es nicht, dass Endometriose in der Gynäkologie wie ein Stiefkind behandelt wird.
Er spricht dann von der „Ökonomisierung der Medizin": Für eine Klinik mache es wirtschaftlich Sinn, sich auf Krebserkrankungen zu fokussieren, weil die neben den Operationen Chemotherapien und längere Krankenhausaufenthalte nach sich ziehen - und damit mehr Geld bringen. Endometriose sei schlicht nicht attraktiv, auch wenn sie die zweithäufigste, gutartige gynäkologische Erkrankung ist.
Ebert, der als Chefarzt auch die Endometriosetherapie am Humboldt-Klinikum etabliert hat, sagt: „Die Gesundheitsökonomen haben dafür wenig Interesse." Vor fünf Jahren hat er sich auch deshalb selbstständig gemacht und betreibt jetzt die einzige zertifizierte Endometriosepraxis in Berlin. Gerade, erzählt er, schreibe mal wieder eine Kollegin bei ihm eine Doktorarbeit darüber, wie wenig sich die Behandlung von Endometriose rentiert. „Für Beratung kriegen sie nichts, die Patientinnen kommen häufig und brauchen viel Zuwendung." Was ihn - genau wie Sylvia Mechsner - antreibt, ist so etwas wie Pioniergeist. Irgendwer muss sich ja kümmern.
Sylvia Mechsner rechnet vor, dass es 20 000 Euro für eine große onkologische Bauchoperation gibt, aber nur 4 000 Euro für die OPs, die sie macht: mehrstündige Prozeduren, bei denen sie endoskopisch den Unterleib nach Endometrioseherden durchsucht, die sie, wenn möglich, sorgfältig herausschneidet. Etwa 200 Frauen operiert sie im Jahr.
Endometriose-Patientinnen: Lena Dunham, Susan Sarandon, Gillian AndersonIrene saß im Herbst 2018 in Sylvia Mechsners Sprechstunde. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie bereits, dass sie Endometriose hatte. Irgendwann war ihr selbst aufgefallen, dass ihre Symptome schlimmer wurden, wenn sie ihre Periode hatte - die mittlerweile zehn Tage am Stück dauerte. Sex war unerträglich geworden. „Wenn ich mit meinem Freund schlief, fühlte es sich an, als würde ich mit einem Messer penetriert", sagt sie. Ein Orgasmus sorgte dafür, dass sie den Rest des Tages Krämpfe im Unterleib hatte.
Schließlich stieß sie im Internet auf einen Text, den die amerikanische Schauspielerin, und Regisseurin Lena Dunham über ihr Leben mit Endometriose geschrieben hatte: Wie sie schon seit ihrer ersten Periode das Gefühl hatte, dass bei ihr „etwas nicht ganz richtig" sei; wie die in Rosa gehaltene Fernsehwerbung für Mittel gegen Regelschmerzen genauso gut für Joghurt hätte sein können, so wenig hatte sie mit ihrer Erfahrung von Menstruation zu tun; wie schwierig es sei, sich bei Ärzten Gehör zu verschaffen, wenn die einzigen sichtbaren Symptome Jogginghosen und ein Gesichtsausdruck seien, wie der, den Charlize Theron in dem Film „Monster" trägt.
Ich glaube, das habe ich auch, sagte Irene.
Kann sein, sagte ihre Gynäkologin.
Zwei Wochen später hatte Irene ihren ersten OP-Termin, wieder kam sie in der Parkklinik Weißensee, nach einer halben Stunde war alles vorbei. Ja, Irene habe Endometriose, bestätigte die Ärztin, sie habe versucht, die Herde mit dem Laser zu verbrennen, Irene solle jetzt eine Pille mit dem Hormon Gestagen nehmen oder noch besser: möglichst schnell schwanger werden. Sie durfte noch am selben Tag nach Hause.
"Die schlimmste Zeit meines Lebens"Irene lacht, wenn sie davon heute erzählt. Es ist ein bitteres Lachen. „Danach begann die schlimmste Zeit meines Lebens." Sie hatte zwar jetzt die Bestätigung, dass ihre Schmerzen eine Ursache hatten, dass sie nicht verrückt war. Dafür tat alles weh. Mit dem Laser wird nur die Oberfläche der Endometrioseherde verkokelt, es entsteht schmerzendes Narbengewebe, und in der Tiefe bleiben die Zellen erhalten und können nachwachsen; Irene litt unter extremer Müdigkeit, wog nur noch 47 Kilo, die Pille sorgte dafür, dass sich eine Zyste an ihren Eierstöcken bildete. Irgendwann fiel sie vor Schmerzen in Ohnmacht, als sie auf Toilette ging. Sie landete in der Notaufnahme. Eine Ärztin gab ihr den Rat, es mit Schwimmen zu versuchen.
Bei Sylvia Mechsner sei sie zum ersten Mal gründlich untersucht worden, sagt Irene. Auf dem Ultraschall sah Mechsner, dass Irene zusätzlich an einer Adenomyose litt, eine nicht-operable Unterform der Endometriose im Inneren der Gebärmutter. Sie entfernte in einer OP, die drei Stunden dauerte, Endometrioseherde von Blase, Harnleiter, Beckenwand, Gebärmutterbändern und aus dem Douglas-Raum.
„Ich wusste schon, was mich erwartet", sagt Irene. Sie war schon seit Monaten zu krank zum Arbeiten, in einer Tech-Firma hatte sie ein Team aus 35 Leuten geleitet, viele Überstunden gemacht - das ging nicht mehr. Die Zeit zu Hause hatte sie genutzt, um zu recherchieren. Auf Facebook fand sie eine Gruppe, in der Zehntausende Betroffene aus der ganzen Welt Erkenntnisse aus neuen Studien teilen, sich über Ärzte und Therapien austauschen. Auf Instagram stehen allein unter dem Hashtag #endometriosis mehr als eine Million Posts: Selfies, unter denen Frauen ihre Geschichten aufschreiben, Durchhaltesprüche, Ernährungstipps. Es gibt zig weitere Hashtags: #endowarrior, #endosister, #endoempowerment.
Auch Irene schreibt über ihre Erkrankung, seit sie einen Namen dafür kennt.
Im März postet sie ein Bild, ihr Bauch ist zu sehen, die Narben von ihren OPs hat sie mit Jahreszahlen markiert und mit Strichen verbunden. Es sieht aus wie ein windschiefes Haus. Die New Yorker Fotografin Georgie Wileman hatte Betroffene dazu aufgerufen, um darauf aufmerksam zu machen, wie viele OPs Patientinnen über sich ergehen lassen, die nicht helfen, sondern zu noch mehr Schmerzen führen. Auf einem Bild, das Irene ein paar Wochen vor ihrer OP bei Sylvia Mechsner postet, ist ihr Torso zu sehen, der Bauch aufgebläht wie ein Ballon. „Ich bin nicht schwanger", schreibt sie, „so sehen innere Blutungen und Entzündungen aus." Darunter: #butyoudontlooksick. Du siehst gar nicht krank aus. Irene erzählt ihre Geschichte, damit andere die richtigen Fragen eher stellen als sie.
Die sozialen Netzwerke sind in den vergangenen Jahren zu einem nie abreißenden Strom von Geschichten geworden. Spätestens seit #MeToo fühlen sich insbesondere Frauen ermutigt, dort ihre Erfahrungen zu teilen. Es bricht sich etwas Bahn, das lange Zeit nur im Verborgenen stattfand. Weibliches Leiden bekommt im Netz eine Stimme, Millionen Stimmen, tausendfach geteilt, und es ist immer jemand da, der gerade zuhört.
Manche Stimmen sind lauter, etwa die von Lena Dunham. Die Schauspielerinnen Susan Sarandon, Whoopi Goldberg und Gillian Anderson haben Endometriose und sprechen immer wieder darüber, in Deutschland ist es gerade Anna Wilken. Vor ein paar Jahren war sie bei „Germany's Next Topmodel" zu sehen, heute hat sie auf Instagram über 200 000 Follower, denen sie von ihrem täglichen Kampf mit Endometriose erzählt. Es gibt wohl keinen einfacheren Weg, um junge Frauen zu erreichen und darüber aufzuklären, was mit ihren Körpern los sein kann. Im Herbst erscheint Wilkens Buch.
Endometriose: Keine neuen Medikamente, viele RätselSylvia Mechsner hat ihr beratend zur Seite gestanden. Sie behandelt nicht nur, sondern beschäftigt sich auch mit den Ursachen der Krankheit. „Aber es ist schwierig, Forschungsgelder zu bekommen", sagt sie. Im Grunde habe sich in den vergangenen 15 Jahren wenig getan, es gibt auch keine neuen Medikamente, dafür jede Menge offene Fragen.
Wie zum Beispiel passt die Theorie, dass Endometriosezellen durch die Menstruation aus der Gebärmutter in den Unterleib geraten, dazu, dass Endometriose auch schon bei weiblichen Föten gefunden wurde - und bei Männern? Welche Rolle spielt es, dass Frauen heute ihre Regel viel öfter haben, weil sie länger leben und weniger Kinder gebären als noch vor ein paar Hundert Jahren? Welche Einflüsse haben UV-Strahlen oder Chemikalien in Lebensmitteln und Kosmetika? Warum leiden einige Frauen an Schmerzen, obwohl sie nur wenige Herde haben, während andere ihre Endometriose erst bemerken, wenn sie schwanger werden wollen, es aber nicht klappt?
Irene wollte nie Kinder haben. Sie wollte auch das Medikament nicht nehmen, das viele Ärzte derzeit nach einer OP empfehlen: ein GnRH-Analogon, das künstliche Wechseljahre auslöst.
Wechseljahre. Mit Mitte 30. Mit Nebenwirkungen wie Hitzewallungen, Depressionen, Scheidentrockenheit, verminderter Libido und, langfristig, Knochenschwund. Was sie jetzt brauche, sagt Irene, ist eine adäquate Behandlung ihrer Schmerzen. Die sind auch nach der zweiten OP geblieben. Alle zwei Tage etwa „wird es böse".
Was Endmetriose kostetIrene sagt: „Ich werde besser darin, mit dem Schmerz zu leben." Sie hat ihre Ernährung umgestellt, verzichtet auf Gluten, Fleisch und Milchprodukte, geht zum Osteopathen und macht eine Verhaltenstherapie. Cannabidiol-Öl hilft ein bisschen, sagt sie, Yoga hilft bei vielem - aber nicht bei Endometriose. Wenn sie ein Konzert besuchen will, verbringt sie den Tag damit, sich darauf vorzubereiten. Gibt es dort einen Platz zum Sitzen? Welche Medikamente muss sie mitbringen?
Es fällt ihr schwer zu akzeptieren, dass ihre Krankheit chronisch ist, dass das jetzt ihr Leben sein soll. Immerhin hat sie wieder angefangen, als Übersetzerin zu arbeiten, ein paar Stunden die Woche, freiberuflich und von zu Hause aus.
Laut einer Krankheitskostenstudie verursacht Endometriose in Deutschland jährliche Gesamtkosten von 1,96 Milliarden Euro, durch Arztbesuche, Medikamente, durch den Ausfall von Arbeitszeit. Das mache Endometriose zu einer „bedeutsamen gesellschaftlichen Belastung", so das Fazit der Studie. Bisher wird das gesundheitspolitisch in Kauf genommen.
„Wir bräuchten ein individuelles Fallmanagement, wie es bei anderen chronischen Krankheiten längst üblich ist", sagt Martina Schröder vom Feministischen Frauengesundheitszentrum. Im Moment würden Betroffene nicht einmal ausreichend darüber informiert, dass ihnen nach einer OP eine Reha zustünde; alternative Heilmethoden, die vielen Linderung verschaffen, würden nicht finanziert, Ärzte und medizinisches Personal nicht ausreichend weitergebildet, und die Aufklärung in Schulen sei auch im Jahr 2019 nicht so weit, dass es für Mädchen normal ist, über ihre Menstruation zu sprechen. „Es sollte aber normal sein", sagt Schröder. Und auch, auf Fragen die richtigen Antworten zu bekommen.
Das Internet ist dafür nicht immer geeignet. Laut Andreas D. Ebert sind es etwa 80 Prozent der Frauen, die nach einer Behandlung schwanger werden oder ihre Schmerzen los sind. „Wem es besser geht, von dem liest man aber oft nichts mehr", sagt Irene. Manchmal braucht sie selbst eine Pause, erträgt es nicht, die immergleichen Geschichten zu lesen. Die Stimmen sind da, jetzt kommt es darauf an, dass auch die zuhören, die etwas verändern können.
Das beginnt in der Forschung, die sich zu lange auf die Gesundheit von Männern konzentriert hat - weswegen wir viel wissen über das Herz und zu wenig über die Gebärmutter. Und das in einer Gesellschaft, die ein eigenes Wort kennt für weibliche Beschwerden: „Frauenleiden". Was verrät, wie ernst man diese Beschwerden nimmt. Selbst wenn eine Frau nur drei, vier Tage im Monat starke Schmerzen hat, summiert sich das bei der Zeit, die durchschnittlich bis zur Diagnose verstreicht, auf ein knappes Jahr. „Es gibt keine Männerkrankheit, bei der das so ist", sagt Sylvia Mechsner, „und wenn es sie gäbe, dann hätten wir längst eine Lösung gefunden."
Noch aber müssen betroffene Frauen dafür kämpfen, dass ihnen ihr Schmerz überhaupt geglaubt wird. Irene geht nur noch zusammen mit ihrem Freund zum Arzt, ihr war aufgefallen, dass es einen Unterschied macht, wenn er neben ihr sitzt, ein Mann, der bezeugen kann, dass ihr Schmerz echt ist.
Eine Liste mit Endometriose-Selbsthilfegruppen, darunter auch die in Berlin, findet sich im Internet auf den Seiten der Endometriose-Vereinigung Deutschland hier.