Wie können wir an die NS-Zeit erinnern, wenn die Zeitzeugen aussterben? An der Uni Lüneburg entwickeln Studierende Ansätze für eine digitale Erinnerungskultur.
Dieses Wintersemester hatte Monika Schoop sich anders vorgestellt. Die Professorin für Musikwissenschaft wollte Studierenden an der Universität Lüneburg die Zeit des Nationalsozialismus nahebringen und dabei eigentlich auf "Geschichte zum Anfassen" setzen: Workshops in einer KZ-Gedenkstätte waren vorgesehen, Treffen mit Überlebenden der NS-Verbrechen.
Doch in Zeiten der Pandemie sind Exkursionen zu Erinnerungsorten schwer planbar, persönliche Begegnungen mit hochbetagten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen kaum möglich. "Wie bringe ich den Leuten so Geschichte nahe?", fragte sich Schoop.
So entstand die Idee zu einem digitalen Ideenlabor: Im Rahmen eines Seminars mit dem Titel "Memory Lab" setzten sich 20 Studierende mit diversen künstlerischen Formen der Erinnerung auseinander, im Fokus standen neue, multimediale Formate. Anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar wurden einige der im Seminar entstandenen Werke nun veröffentlicht - darunter Lyrik, Raptexte und Ideen für ein "Museum der Zukunft" in einem Podcast. Es sind Ansätze, die dabei helfen könnten, Erinnerungen auch dann noch wachzuhalten, wenn die letzten NS-Überlebenden verstorben sind.
Im Podcast tragen die Studierenden Gedichte vor. Einige haben sie selbst geschrieben, andere haben Überlebende der Shoah verfasst. So wie Batsheva Dagan, die heute als Autorin in Israel lebt. Immer wieder erklingen Verse aus ihrem Werk An die, die zögern zu fragen. Dagan mahnt darin:
Fragt heute, denn heute ist das Gestern von morgen. Fragt heute, denn morgen entdeckt ihr plötzlich, dass es schon zu spät ist. Fragt heute, denn heute gibt es noch Zeugen. Fragt heute, denn morgen wird es nur Literatur sein oder Auslegung. Was fehlen wird, wenn das Morgen kommt, ist Blickkontakt und Erwiderung, eine Antwort auf jede Frage in Worten oder Miene. Fragt nochmals, fragt immer wieder. Jetzt ist es Zeit. Gestern kehrt nicht wieder.
Der Gedanke hinter diesen Worten hat Kira Malou Bokowski dazu motiviert, an dem Seminar teilzunehmen. Die 22-Jährige studiert Kulturwissenschaft an der Universität Lüneburg. Die wichtigsten Daten und Fakten der NS-Zeit, sagt sie, kenne sie zwar aus Büchern. Doch immer wieder habe sie sich gefragt: Wie lässt sich Geschichte verstehen, wenn Orte sprechen statt Fotos? Wenn nicht Texte erzählen, sondern Zeitzeugen und -zeuginnen? Gemeinsam mit 19 anderen Studierenden wollte Bokowski im Memory Lab auf Spurensuche gehen.
"Es ging plötzlich um mich, was Geschichte in mir auslöst"Auf den Besuch in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, der im Rahmen des Seminars ursprünglich für Ende des Jahres geplant war, war Bokowski besonders gespannt gewesen. 1939 errichtete die SS dort das größte Frauen-Konzentrationslager auf deutschem Gebiet. Batsheva Dagan und drei weitere Überlebende wollten die Studierenden dort treffen, eine Rapperin und eine Poetry-Slammerin sollten Workshops geben.
Doch statt das Gelände der Gedenkstätte zu besuchen, sahen die Studierenden sich Videos der ehemaligen Baracken an. Sie lernten zu Hause, verfolgten Webinare auf Bildschirmen und hörten sich Interviews von NS-Überlebenden an. Bokowski erinnert sich an den Film der Mahn- und Gedenkstätte: "Er löste in mir gar nichts aus. Keine Wut, keine Trauer, kein Unverständnis. Dabei hatte ich genau diese Gefühle von mir erwartet!" Jetzt sollte sie darüber ein Gedicht schreiben.
Was klingt wie ein didaktischer Misserfolg, eröffnete neue Perspektiven. "Es ging da plötzlich um mich", sagt Bokowski. "Darum, was ich damit zu tun habe. Was Geschichte in mir auslöst."
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