Anna Dotti

Freie Journalistin, Hamburg

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Warum ich aus Italien weggezogen bin

Mit 25 Jahren verließ ich Italien. In diesem Jahr werde ich 34, lebe in Deutschland. Und in Italien regieren seit dem letzten Jahr Postfaschist:innen. Ist mein Land noch zu retten?

Sommer 2014 in der Altstadt von Rom. Ich sitze im Teatro Valle, einem Theater aus dem 18. Jahrhundert zwischen der Piazza Navona und dem Pantheon, und schaue den norwegischen Film „Einer nach dem anderen", eine schwarze Komödie mit Gesellschaftskritik. Das älteste Theater der italienischen Hauptstadt wurde 2011 von seinen eigenen Kulturschaffenden besetzt. Sie hatten sich der Stadtverwaltung widersetzt, die den Betrieb beenden wollte, und hatten mit dieser Besetzung einen revolutionären Prozess angestoßen: Sie schufen einen Raum für alle im Herzen Roms, zugängige Kultur, ein Theater als Allgemeingut.

Auf der Leinwand vergleicht ein serbischer Krimineller, der in Norwegen lebt, die Sozialpolitik der Länder im Norden mit der im Süden Europas: „In Spanien gibt es Probleme, in Portugal gibt es Probleme, von Griechenland und Italien ganz zu schweigen, alles heiße Länder", sagt er. „Entweder Sonnenschein oder soziale Wohlfahrt." Ich breche in schallendes Gelächter aus. Der Ex-Sträfling im Film und ich teilen denselben Horizont, die Weisheit der Migrant:innen.

„Warum bist du eigentlich aus Italien weg?" Ich weiß nicht mehr, wie viele Male ich diese Frage schon beantworten musste. Ständig bin ich mit der Verständnislosigkeit der Deutschen konfrontiert. Große Augen gucken mich an, als wäre ich einfach verrückt. Was will ich im grauen Deutschland, wenn ich auch im sonnigen Italien leben könnte?

Das Essen, das Meer, das Wetter, die Kunst: Die Deutschen lieben Italien. Dolce Vita statt deutscher Gründlichkeit. Wenn Deutsche Urlaub in Italien machen, träumen sie davon, wie es wäre, dort zu leben. Bellissimo muss das sein.

Ich liebe Urlaub in Italien auch. Dort ein Leben aufzubauen, ist aber etwas ganz anderes. Es ist, wie der Kriminelle in dem norwegischen Film sagt: In Deutschland bekomme ich zwar Dauerregen, dafür aber auch staatliche Fürsorge und einigermaßen seriöse Politik. In Italien aber brennt nicht nur die Sonne am Himmel, sondern auch Mülltonnen in den Straßen. Die Kirche ist der einzige Wohltäter und die Politik grotesk. Da helfen auch Sonne und Pasta nicht mehr viel.

In der Urlaubssehnsucht der Deutschen fest verankert: Rom im Sonnenuntergang, mit dem Petersdom im Hintergrund. © fotoVoyager/Getty Images

Das Projekt des Teatro Valle war toll, aufregend, ein faszinierendes Experiment. Selbstverwaltete, politisch lebendige Räume gibt es in meinem Land immer mal wieder. Sie wirken wie ein Hauch von Sauerstoff in einer erstickenden Atmosphäre. Zu strukturellen Veränderungen kommt es aber dadurch nicht. Die Stadtverwaltung brach ihre Versprechen gegenüber den Besetzer:innen und räumte letztendlich das Theater. Bis heute ist es verlassen. Aber ich bin nicht deswegen ausgewandert, zumindest nicht nur.

Ich bin in Italien geboren und habe dort die ersten 25 Jahre meines Lebens verbracht. Ich kenne die Groteske der italienischen Politik gut, zu gut sogar. Jahrelang habe ich mich politisch engagiert. Doch dann kam dieser eine Moment. In dem ich es nicht mehr aushielt.

Ich wollte Abstand zwischen mir und den Palästen der Macht in Rom schaffen. Deswegen bin ich nach Deutschland gezogen. Etwa 1700 Kilometer liegen jetzt zwischen meinem alten und meinem neuen Zuhause.

Ich wohne seit fünf Jahren in Hamburg. Trotzdem ertappe ich mich immer noch dabei, gegen die Nachrichten im italienischen Fernsehen anzuschreien. Wenn manche Politiker:innen interviewt werden, muss ich den Ton abstellen - aus Selbstschutz.

Seit eine rechte Koalition mit einer Postfaschistin an der Spitze die Regierung in Italien führt, hat sich die Verständnislosigkeit der Menschen in meiner neuen Heimat Deutschland verändert. Sie fragen mich nicht mehr, warum zur Hölle ich hier lebe, sondern können nicht verstehen, wie das schöne, tolle Italien eine Postfaschistin wählen konnte. Wie ist es nur so weit gekommen?

Mussolinis Kriegserklärung umkränzt heute den Sitz der Luxusmarke Fendi

Das Kolosseum gibt es in Rom zwei Mal. Das runde Amphitheater, fast 2.000 Jahre alt, vor dem die Tourist:innen Schlange stehen - und das sogenannte viereckige Kolosseum, das weit weniger bekannt ist. Das viereckige ist 60 Meter hoch und ein moderner Nachbau des Originals. Mussolini hat den Bau in Auftrag gegeben.

Auf jeder der vier Seiten des Quaderbaus befindet sich über den Arkaden eine Inschrift: „Ein Volk der Dichter, der Künstler, der Helden, der Heiligen, der Denker, der Wissenschaftler, der Seeleute, der Wandernden". Das sind Begriffe, mit denen Mussolini 1935 die Invasion von Äthiopien ankündigte. Das viereckige Kolosseum zeigt deutlich, welches Verhältnis Italien zum Faschismus hat: In dem Gebäude befindet sich heute nicht etwa ein historisches Museum - sondern der Sitz der italienischen Luxusmarke Fendi.

„In Italien gibt es einen generellen Mangel an Reflexion über die Geschichte des Landes." Anna Dotti

Wenige wissen das und noch weniger Menschen empören sich darüber. In Italien gibt es einen generellen Mangel an Reflexion über die Geschichte des Landes. Während in Deutschland immer noch Prozesse gegen KZ-Mitarbeiter:innen laufen, wurden nur sehr wenige faschistische Verantwortliche in Italien vor Gericht gestellt. 1946 gab es sogar eine Amnestie für Kriegsverbrecher. Auch wurden viele Mitarbeiter:innen im Staatsapparat nicht ausgetauscht, die mit dem faschistischen Regime zusammengearbeitet hatten. Heute ist die Situation in der Öffentlichkeit nicht viel besser. Obwohl die italienische Verfassung deutlich antifaschistisch ist, sind die Gesetze gegen den Faschismus als Verbrechen viel zu schwach. Vieles geht als Ausdruck der Meinungsfreiheit durch.

Wie kann das sein? Um das zu erklären, muss man sich Italien einige Jahrzehnte nach Mussolini ansehen: in der Zeit des Berlusconismus. 20 Jahre war Berlusconi an der Macht. Das hat das Land politisch und kulturell geprägt sowie gesellschaftlich verändert.

Silvio Berlusconi ist immer noch da

Silvio Berlusconi ist eine Art wiederkehrendes Trauma für mich. Ich habe keine politische Erinnerung ohne ihn. Ich war fünf, als er das erste Mal als Ministerpräsident gewählt wurde. 2023 werde ich 34 Jahre alt und er ist immer noch da. Dabei ist er 2011 von seiner vierten und letzten Amtszeit als Ministerpräsident zurückgetreten. Der Druck der ökonomischen Krise, die ganz Europa überrollte, war groß und seine persönlichen Skandale noch größer: Er stand wegen Amtsmissbrauch und Förderung der Prostitution mit Minderjährigen vor Gericht, die sogenannte Ruby-Affäre.

Im November 2011 traf Berlusconi im Quirinalspalast den damaligen Republikpräsidenten, um sein Amt niederzulegen. Ich stand auf der Straße vor dem Eingang des Palastes, mit mir eine Gruppe jubelnder Menschen. Auch das Orchester der ältesten Musikakademie in Rom war dabei, es spielte „Halleluja". Die Stimmung war euphorisch, als hätte Italien die WM gewonnen. Für mich war es ein historischer Moment, auf den ich so lange gewartet hatte: Der Moment der Befreiung. Aber la realtà supera sempre l'immaginazione, wie man in Italien sagt: Die Realität übertrifft immer die Vorstellungskraft.

Wegen Steuerbetrugs wurde Berlusconi 2013 endgültig verurteilt. Damit erhielt er ein zweijähriges Verbot der Bekleidung öffentlicher Ämter. Es klingt immer noch nach Befreiung, aber sie war kurz. Nach den zwei Jahren Verbot begann er wieder, Politik zu machen.

„Mit seiner Maske aus zugeklebten Haaren, dreifingerdicker Schminke und so vielen Jahren im Amt verkörpert Silvio Berlusconi für mich das Groteske der italienischen Politik mehr als alle anderen." Anna Dotti

Heute ist er 86 Jahre alt und bestimmt noch immer mit, was in meinem Land passiert. Vor den Kameras steht er auch wieder: In 50 Prozent der Fälle erzählt er irgendwelche fragwürdigen Witze, in den anderen 50 Prozent macht er absurde politische Aussagen, etwa, dass seine Freundschaft mit Putin besser laufe als je zuvor.

Mit seiner Maske aus zugeklebten Haaren, dreifingerdicker Schminke und so vielen Jahren im Amt verkörpert Silvio Berlusconi für mich das Groteske der italienischen Politik mehr als alle anderen.

Welche Rolle Berlusconi dabei spielt, dass heute Rechtsradikale die italienische Regierung anführen, habe ich mit dem Journalisten Guido Caldiron besprochen. Er arbeitet bei „Il Manifesto", wo ich meine ersten Texte als freie Journalistin veröffentlicht habe. Die Zeitung gehört zu den antifaschistischen Medien Italiens. Seit Jahren beschäftigt Caldiron sich mit Rechtsextremismus.

Es war Berlusconi, der die Faschist:innen legitimierte

„Ich finde es schon etwas lustig, sich heute darüber zu sorgen, dass die Postfaschisten an der Macht sind", sagt Caldiron. „Sie waren schon lange da." Laut ihm ist der Eintritt der Rechtsradikalen in die institutionelle Politik Italiens auf 1993 zu datieren. Damals war Silvio Berlusconi kurz davor, mit seiner ersten Partei Forza Italia (Vorwärts Italien) für die Parlamentswahl 1994 zu kandidieren.

Bei der Kommunalwahl 1993 in Rom unterstützte Berlusconi die Kandidatur von Gianfranco Fini, einem wichtigen Vertreter des Movimento Sociale Italiano (MSI, Italienische Sozialbewegung). Diese Partei wurde von ehemaligen Vertretern der aufgelösten faschistischen Partei kurz nach Kriegsende gegründet und galt als die Partei der Faschist:innen.

Fini verlor die Wahl, doch es war ein historischer Moment: „Zum ersten Mal erhielt ein Kandidat des MSI eine hohe Stimmenzahl und öffentliche Anerkennung", sagt Caldiron. Bei der nationalen Wahl im nächsten Jahr gewann Berlusconis Partei, in Koalition mit der damals neu gegründeten Lega und der Alleanza Nazionale, der Nachfolgepartei des MSI. Den besten Kommentar dazu hat Berlusconi selbst 2019 in einer Rede für seine Parteianhänger gegeben: „Wir waren es, die die Lega und die Faschisten [ins Parlament] reingelassen haben. Wir haben sie legitimiert."

Damit seien die Institutionen für die radikale Rechte nach dem Krieg zum ersten Mal wieder offen gewesen, sagt Caldiron. „Obwohl sie nicht gleich auf nationalen Posten zu sehen waren, haben sie wichtige Rollen in Regionen und Kommunen übernommen." Diese Macht wuchs weiter und weiter.

Im Frühling 2008 hatte ich mein letztes Jahr am Gymnasium. Ich war 18 und konnte das erste Mal wählen, gleich zwei Mal nacheinander: Berlusconi wurde zum vierten Mal Premierminister und Gianni Alemanno Bürgermeister von Rom. Die Rechte gewann alles und mir wurde schnell und schmerzhaft klar, dass ich in meinem Land zu einer Minderheit gehörte.

Der frisch gewählte Bürgermeister Alemanno war damals Mitglied der neu gegründeten Berlusconi-Partei Il Popolo della Libertá (Das Volk der Freiheit). Sein Herz schlägt aber viel weiter rechts, schon immer hat es das. Aus Protest gegen seine Wahl organisierten meine Mitschüler:innen und ich damals eine kleine Kundgebung. Mit einem Megaphon in der Hand verlas ich im Schulhof die Biografie des neuen Bürgermeisters.

Ich erinnere mich noch heute an meine Lieblingsdetails: In den 1980er Jahren war Alemanno angeklagt worden, da er vermutlich einen Molotowcocktail gegen ein Botschaftsgebäude der UdSSR geworfen hatte; Anfang der 1990er heiratete er Isabella Rauti, die Tochter von Pino Rauti, der zum Kriegsende als Teenager freiwillig auf der Seite der Faschisten mitgekämpft und danach politische Karriere gemacht hatte, unter anderem als Präsident des MSI. Wo man Rauti in Italien schreibt, liest man Faschismus.

Der Faschismus wird verharmlost und normalisiert

Guido Caldiron sagt, zu den Rechten in den öffentlichen Ämtern kommt das kulturelle Phänomen der „Verharmlosung des Faschismus" hinzu. Im Laufe der vier Regierungen mit Berlusconi als Ministerpräsident habe ein klarer Geschichtsrevisionismus gegenüber dem Faschismus stattgefunden. „Die Rhetorik war: Mussolini ist ein wichtiger Staatsmann gewesen, der wie andere die Geschichte Italiens geprägt hat."

„Die Rhetorik war: Mussolini ist ein wichtiger Staatsmann gewesen, der wie andere die Geschichte Italiens geprägt hat." Guido Caldiron

Solche revisionistischen Vorgänge fanden ihre Bühne in Berlusconis Kommunikationsimperium: Er besaß lange Jahre mehrere Verlage, drei Fernsehsender und die meisten Aktien einer nationalen Tageszeitung. Dazu spiegelten die öffentlich-rechtlichen Sender dieselbe Propaganda unter dem Einfluss seiner rechten Koalition. „Von den Talkshows im Fernsehen über die privaten Gewohnheiten der Mussolini-Familie bis zu Radiosendungen über die persönliche Geschichte der faschistischen Militanten im Krieg: So lief die Normalisierung des Faschismus", sagt Caldiron.

Das reicht aber allein nicht, um die aktuelle Situation zu erklären. Von der letzten Berlusconi-Regierung bis heute sind elf Jahre vergangen, mit unterschiedlichsten Regierungen, die im Schnitt zwei Jahre gehalten haben.

Zwischen den Wahlen herrschte nichts als Krise

Alle fünf Jahre wählt Italien - die anderen vier Jahre ist Regierungskrise angesagt. 2018 erlebte ich die fünfte Regierungsbildung innerhalb von sieben Jahren. Kurz vor der Wahl hatte ein Mann mit engen Verbindungen zur Lega auf sechs Menschen auf der Straße in einer Kleinstadt im Zentrum Italiens geschossen, weil sie Schwarz waren. Es war Glück, dass sie nur leicht verletzt wurden.

Ich war zu der Zeit arbeitslos und hatte keine Energie mehr, mit Leuten in den öffentlichen Verkehrsmitteln wegen rassistischer Sprüche zu streiten. Manchmal stieg ich an der falschen Haltestelle aus, weil ich die Situation im Bus oder in der U-Bahn nicht mehr aushalten konnte. Es war eine Phase der persönlichen Instabilität, die mich letztendlich nach Hamburg brachte; schon einmal hatte ich wegen eines journalistischen Praktikums dort gelebt.

Was aber diese langen Instabilitätsphasen für Italien bedeuten, weiß Dino Amenduni, Experte für politische Kommunikation und Berater der Kommunikationsagentur Proforma. Amenduni schreibt politische Analysen für die Infoseite Valigia Blu, ein italienisches Projekt des Community-Journalismus.

Nach so vielen unterschiedlichen Regierungen war der Sieg der sogenannten starken Stimme zu erwarten, sagt Amenduni. „Die Wähler:innen stimmen für die Partei, die ihrer Vorstellung nach keine politischen Kompromisse macht mit den anderen Parteien.„ Giorgia Meloni, die heutige Ministerpräsidentin, nutzte genau das: „Ich bin nicht erpressbar", lautete ihr Mantra während des Wahlkampfs.

Hinzu kommen die sogenannten technischen Regierungen, wie die von Mario Draghi. Der Ministerpräsident Italiens vor Meloni und ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank wurde von dem Präsidenten der Italienischen Republik als Regierungschef berufen, nicht durch eine Wahl. „Die Art der Nominierung und Draghis EU-affine liberale Politik haben den Rechten die Chance eröffnet, ihre Rhetorik des Souveränismus groß zu spielen", sagt Amenduni.

Die EU gilt als böse Stiefmutter

Und dann ist da noch die Rolle Europas: „Die EU wird als Stiefmutter gesehen, die ein Regelwerk vorgibt, dem man sich unterwerfen muss", sagt Amenduni. Die Strenge der EU, vor allem im Wirtschaftsbereich, findet keine Zustimmung in der Bevölkerung, die nach Jahren der Covid-Pandemie gerade unter der Inflation leidet. Daher sei der rechte liberale Gedanke, dass der Staat seinen Bürger:innen eher ökonomische Freiheit statt Wirtschaftsregeln geben soll, für die Wähler attraktiv, sagt Amenduni.

Es geht vor allem um politische Propaganda, die gewisse Milieus anspricht. Für Leute wie mich - akademische Mittelschicht, um die 30 - ist klar, dass die EU eine große Chance darstellt, die den Horizont der Möglichkeiten erweitert. Ich habe als Italienerin problemlos in Deutschland, Großbritannien - vor dem Brexit - und Griechenland gelebt. Ich konnte immer frei entscheiden, wohin. Ein Luxus, den nicht alle haben.

Für die Migrationspolitik hat Giorgia Meloni den Slogan des alten Ministerpräsidenten Salvini übernommen: „Der Spaß ist vorbei." Mit Spaß bezeichnet sie die Such- und Rettungseinsätze von Migrant:innen im Mittelmeer, die ihr Leben riskieren. Zynische Groteske, jedoch in Italien nichts Neues.

Vergangenen November gab es dann die ersten politische Schwierigkeiten zwischen Frankreich und Italien, weil die Meloni-Regierung das Schiff „Ocean Viking" der NGO SOS Mediterranee nicht in einem italienischen Hafen anlegen lassen wollte. Ein Verstoß gegen internationale Regeln und das Gegenteil einer gemeinsamen europäischen Lösung.

Giorgia Meloni ist eine begabte Politikerin

Die Geschichte Italiens zeigt, auf welchem Boden Giorgia Melonis Erfolg wachsen konnte. Aber um ihren Sieg zu verstehen, muss man auch verstehen, wer sie ganz persönlich ist. Weil nicht die Postfaschisten die jüngste Wahl in Italien gewonnen haben, sondern die Person Giorgia Meloni. Wer ist diese Frau?

Sie ist „der Ministerpräsident": So möchte Meloni genannt werden, das hat sie in einer offiziellen Mitteilung erklärt. Also, eine Feministin ist die neue Regierungschefin sicherlich nicht. Sie sitzt im patriarchalischen System so tief verankert und möchte dieses so unberührt lassen, dass sie mit Stolz gegen die einfachste Logik sowie die grammatischen Regeln der Sprache verstößt. Eine Art konservative Cancel Culture, auf den Kopf gestellt. Da ist sie wieder, die Groteske.

Abgesehen von der Wahl ihres Pronomens ist Meloni eine erfolgreiche, begabte rechtsgerichtete Politikerin. Mit 15 Jahren fing sie an, sich in ihrer Heimatstadt Rom politisch zu engagieren. 2006 trat sie zum ersten Mal im Parlament als Abgeordnete der damaligen rechtsradikalen Partei Alleanza Nazionale (Nationales Bündnis) an. 2008 wurde sie mit 31 Jahren die jüngste Ministerin der Geschichte der Italienischen Republik, als Abgeordnete der damaligen rechtsliberalen Partei von Silvio Berlusconi Il Popolo della Libertà (Das Volk der Freiheit).

2012 gründete sie die rechtsradikale postfaschistische Partei Fratelli d'Italia (Brüder Italiens) mit, die sie seit 2014 führt. Somit war und ist sie die erste Frau an der Spitze einer Partei im italienischen Parlament. Einer Partei, in deren Namen die Existenz von Frauen nicht mal berücksichtigt wird.

Georgia Meloni ist die erste Frau an der Spitze einer italienischen Regierung. Mit Feminismus hat das allerdings nichts zu tun. © Antonio Masiello / Getty

Im Oktober 2022 wurde Meloni mit 45 Jahren Italiens erste Ministerpräsidentin. Die Krönung einer langen, glänzenden Karriere. Dabei hat sie die Wahl vor allem aus einem Grund gewonnen: Sie ist die Neue. Zwar kennt jeder in Italien das Gesicht der Vorsitzenden von Fratelli d'Italia. Aber seit sich die Berlusconi-Regierung 2011 auflöste, hat sie keine Regierungserfahrung gesammelt.

Seit dieser Zeit hat es in Italien sieben unterschiedliche Regierungen mit allen möglichen Parteien gegeben, in verschiedenen Konstellationen zusammengesetzt. Giorgia Meloni saß aber immer in der Opposition und damit für die meisten unschuldig an den Misserfolgen der Politik.

Es entscheidet Persönlichkeit, nicht Ideologie

Im Sommer 2021 besuchte ich Rom, auf der Suche nach einem bestimmten Buch ging ich in eine große Buchhandlung. Mein Blick fiel auf eine ganze Wand voller Giorgia Melonis. Ihre Biographie „Io sono Giorgia" war im Mai 2021 erschienen und wurde ein Bestseller. Gerade wird die fünfte Auflage verkauft.

Ich konnte dem Impuls nicht widerstehen und las die erste Seite: „Ich bin Giorgia, ich bin eine Frau, ich bin eine Mutter, ich bin Italienerin, ich bin Christin." Aus einer Kundgebungsrede heraus war dies Melonis erfolgreichster Slogan geworden. Was für ihren Erfolg zählt, ist ihre Identität, nicht ihre politische Agenda.

Melonis Politik entspricht einer ziemlich klassischen rechten und konservativen Politik, verpackt in eine populistische Kommunikation. Meloni bewegt sich nicht weit entfernt von Matteo Salvinis Politik.

Da Inhalte eine minimale Rolle spielen, ist jede Wahl von einer realen politischen Bedeutung entleert. Rechts, Links, Zentrum - die stärkste Gruppierung heißt institutionelle, politische Krise in Italien. Die Zahlen sprechen für sich: Die Enthaltung bei der Wahl steigt noch krasser als die Inflation. Etwa ein Drittel der Wahlberechtigten ist letztes Mal nicht wählen gegangen, das sind zehn Prozent mehr im Vergleich zur vorherigen Wahl.

Diejenigen, die wählen gehen, tun das im Wahllokal auf eine Art wie bei einem Telefonvoting: Man entscheidet sich für den Kandidat oder die Kandidatin; als ob man abstimmen würde, wer das Big-Brother-Haus verlassen soll. Diese stark personalisierte Politik geht einher mit einem schnellen Verschleiß der Persönlichkeiten selbst. Matteo Renzi, Giuseppe Conte, Matteo Salvini: rasante Erfolge - rasante Niederlagen.

Jed:r vierte Wähler:in stimmte am 25. September 2022 für Giorgia Meloni - bei der Wahl 2018 waren es nur knapp mehr als vier Prozent. Nicht alle von Melonis Wähler:innen sind Postfaschist:innen, sie haben aber alle in der Wahlkabine ein Kreuz hinter ein faschistisches Symbol gesetzt.

Das Symbol von Fratelli d'Italia ist eine grün-weiß-rote Flamme, die über einem blauen Strich züngelt. Laut der am meisten etablierten Deutung soll der Strich den Sarg von Benito Mussolini und die Flamme eine Fackel darauf darstellen. Dasselbe Symbol hatte schon die inzwischen aufgelöste Alleanza Nazionale benutzt und noch früher die Partei Movimento Sociale Italiano.

Bietet die rechte Regierung eine Chance für die Linke?

Die Postfaschist:innen regieren nun Italien. Aber kann diese reine, rechte Regierung eine Chance für die Linke darstellen? Diese Frage habe ich der feministischen Schriftstellerin Giulia Blasi gestellt, sie zählt in Italien als intellektuelle Stimme der Opposition und gibt freche Antworten, das mag ich. „Welche Linke?", fragt Blasi und guckt mich amüsiert vom Bildschirm an. Meine Frage ist aber ernst gemeint.

Als wir im Dezember 2022 unser Interview führen, konzentrieren sich die internationalen Schlagzeilen der Zeitungen auf den Korruptionsskandal im europäischen Parlament. Die Hauptverdächtigen sind fast alle Italiener:innen. Und Sozialdemokrat:innen. Blasi sagt: „Das ist ein riesiger Imageschaden für die Institutionen und eine Krise über die übliche Krise der italienischen Linken hinaus." Oder anders gesagt: Die italienische Linke hat gerade noch ein anderes grundlegenderes Problem als die rechte Regierung im eigenen Land.

Generell tritt die Linke in der nationalen Politik kaum in Erscheinung, feministische linke Gruppierungen gebe es gar nicht, sagt Blasi. In Neapel ist die linke Gruppierung Potere al Popolo (Macht dem Volk) zum Beispiel sehr gut verwurzelt, aber auf der nationalen Ebene schafft sie keinen großen Erfolg. Blasi sagt, ein wesentlicher Grund dafür sei die aktuelle Personalisierung der Politik: „Die Linken setzen auf Ideen, statt auf Personen. Die einzelnen Menschen gehen und kommen, aber die Ideen bleiben. Sie kann man nicht auf ein Gesicht reduzieren."

„Obwohl mein Land mit seiner Groteske in vielen Ansichten besonders ist, stellt Meloni wie die Trumps und Orbans unserer Zeit nichts mehr als das populistische Gesicht einer gespaltenen Gesellschaft dar, die grenzüberschreitende Krise der politischen Repräsentanz." Anna Dotti

Linke Politik ist also als kollektive Praxis zu verstehen, nicht nur in Italien. Zugleich ist der Erfolg von Giorgia Meloni auch nicht so einzigartig. Obwohl mein Land mit seiner Groteske in vielen Ansichten besonders ist, stellt Meloni wie die Trumps und Orbans unserer Zeit nichts mehr als das populistische Gesicht einer gespaltenen Gesellschaft dar, die grenzüberschreitende Krise der politischen Repräsentanz.

Ob Melonis Regierung die ganzen fünf Jahre der Legislatur halten wird, ist Anfang 2023 noch schwer zu sagen: Die rechte Koalition ist neu an der Macht, die unterschiedlichen Gewichte gleichen sich noch aus. Für mich ist aber klar, diese Regierung stellt nicht das Problem meines Landes dar, sie ist nur ein Ausdruck dessen.

Ich würde gerne wieder in Italien leben. Aber damit es mich wirklich zurückzieht, muss viel mehr passieren als eine neue Regierungskrise.

Redaktion: Thembi Wolf, Julia Kopatzki, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger
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