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Koma: Zwischen Leben und Tod

© Florian Generotzky für ZEIT Christ&Welt

Hirntot, sagen die Ärzte. Und dann: Organspende. Wie durch dichten Nebel dringen die beiden Wörter, die das Ende bedeuten, zu Beatrix Karrasch hindurch, wummern dumpf durch ihren Kopf, bis sie schließlich dröhnen wie ein Paukenschlag: Hirntot. Organspende. Hirntot. Organspende. Ihr Sohn Frank hatte einen Autounfall. Seit drei Wochen liegt er im Koma. Er hätte längst aufwachen müssen, sagen die Ärzte. Aber er wacht nicht auf. Die Stimme der Mutter wackelt noch heute, wenn sie von damals erzählt. Der Unfall ist fast 30 Jahre her - und doch erinnert sie sich an jedes Detail. Die Ärzte testen seine Reaktionen auf Licht und Schmerz, schauen, ob er noch selbstständig atmen kann. Nichts passiert. Maschinen abstellen, sagen sie.

Frank Karrasch ist 24 Jahre alt, als er auf dem Weg zu seinen Eltern verunglückt. Er fällt noch am Unfallort ins Koma. Doch da ist nicht nur Schwarz, innerlich kämpft er um sein Leben: "Ich befand mich in einem langen dunklen Tunnel, ohne jegliche Befreiungsmöglichkeiten. Sah von Weitem ein Licht, aber keine Wege, auf denen ich hätte gehen können. Ich war ständig erfüllt von einem Streben ins Helle. In mir nur der Gedanke: Ich muss hier raus, ich will leben." So beschreibt Karrasch seinen langen Weg aus dem Koma. Eineinhalb Jahre hat er gedauert. Er sitzt in der Praxis seiner Logopädin. Seit dem Unfall fällt ihm das Sprechen schwer.

Immer wieder fallen Menschen durch Schädel-Hirn-Verletzungen und Schlaganfälle ins Koma. Einige geraten in einen Zustand zwischen den Welten, der in Deutschland als Wachkoma, seltener auch als Coma vigile oder apallisches Syndrom bezeichnet wird. In seltenen Fällen leben sie danach mit dem sogenannten Locked-in- oder auch Gefangensein-Syndrom. Die Betroffenen sind bei vollem Bewusstsein, können aber ihren Körper nicht mehr bewegen. Genaue Fallzahlen gibt es keine.

So erging es auch Kunibert Geiger. Er war gerade Vater geworden, baute mit seiner Frau am Eigenheim, da veränderte ein Schlaganfall alles. Als er im Krankenhaus erwacht, kann er sich nicht mehr bewegen, nicht einmal den kleinen Finger. Dabei ist er geistig voll da. Mehr als ein Jahr dauert es, bis er sich aus dem Locked-in-Syndrom befreit hat.

Auch Stefan Tiefenbacher war Koma-Patient. Als er nach drei Monaten erwacht, kann er sich zwar bewegen - aber er erinnert sich an nichts. Nicht an die Zeit im Koma, nicht an sein Leben vor dem Unfall. Alles ist weg. Sein bisheriges Leben muss er neu kennenlernen.

Frank Karrasch, Kunibert Geiger, Stefan Tiefenbacher - alle drei rissen wenige Sekunden in jungen Jahren aus dem Alltag. Sie verbrachten Wochen auf der Intensivstation, Monate in Krankenhaus und Reha, unzählige Stunden mit Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie. Schlucken, essen, sprechen und laufen - sie mussten alles neu lernen. Alltägliches war plötzlich unmöglich, ist noch Jahre später ein Kraftakt. Bis heute ist jeder Tag harte Arbeit.

Gibt es etwas zwischen Leben und Tod? Wie fühlt es sich an? Wie schaffen es Menschen, die Schwelle zurück ins Leben zu überschreiten? Und wie blickt man auf das Leben, wenn man dem Tod so nah war? Was wir von Totgesagten über das Leben lernen können.

Frank Karrasch - Der Weg ins Helle

12. August 1994: Es ist Freitagabend, der 24-jährige Karrasch ist auf dem Weg zu seinen Eltern. In einer Kurve überholt ein Auto. Es kracht. Sein Wagen schlingert, rutscht von der Landstraße auf die Wiese, überschlägt sich, bleibt auf dem Dach liegen. Dann wird es dunkel. Er fällt noch am Unfallort ins Koma. Was danach passiert ist, weiß Karrasch von seinen Eltern. Als sie in der Uni-Klinik ankommen, ist er schon im OP. Die Diagnose der Ärzte: Lungenquetschung, mehrere Frakturen, schwere Kopfverletzung. Es sieht nicht gut aus.

Die Mutter will ihn nicht aufgeben, fleht die Ärzte an, ihn in eine Spezialklinik zu verlegen, ihm noch eine Chance zu geben. Vor lauter Verzweiflung fällt sie auf die Knie. Der Vater kämpft so lautstark um das Leben seines Sohnes, dass er der Intensivstation verwiesen wird. Eine Woche lang darf er nicht zu seinem Kind. So erzählt Beatrix Karrasch es heute am Telefon. Schließlich wird ihr Sohn nach Hessisch-Oldendorf verlegt, in eine neurologische Klinik.

Für die nächsten Monate hängt Frank Karraschs Leben an Schläuchen. Er wird künstlich beatmet und ernährt. Neben ihm wachen Apparate blinkend und piepend über Herz und Kreislauf. Hier zeigt sich eindrücklich, was von nun an sein Leben bestimmen wird. Er braucht Hilfe. Therapie, Medikamente und vor allem eines: andere Menschen.

Seine Mutter versucht, Karrasch mit allen erdenklichen Tricks zurückzuholen. Sie liest ihm aus Büchern vor, erzählt ihm von seinen ersten Versuchen im Schlittschuhlaufen, den Motorrädern, an denen er vor seinem Unfall immer geschraubt hat, und den neusten Tratsch aus dem Ort. Sogar sein Rasierwasser bringt sie ins Krankenhaus. Wenn sie sich heute an damals erinnert, lacht sie. Sie klingt erleichtert.

Auch Karraschs bester Freund Dirk kommt regelmäßig. Er erzählt Witze und hat Kassetten dabei. Schlager und Geschichten vom Außerirdischen Alf, die Frank als Kind so gerne gehört hat. Seine Freundin Heike nimmt für ihn das Frühstücksradio auf. Die FFN-Morningshow mit Günther dem Treckerfahrer. Die Hoffnung: Die Reize könnten Erinnerungen wecken und damit auch Karrasch.

Ein Jahr liegt er auf der Intensivstation. In dieser Zeit durchlebt er alle Phasen des geistigen Erwachens: Erst vom Koma ins Wachkoma, dann vom minimalen Bewusstseinszustand zum vollem Bewusstsein. Acht Monate dauert es, bis er erste Reaktionen zeigt. Acht Monate des Harrens und Bangens für seine Eltern, acht Monate Kampf für Karrasch.

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