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Analphabetismus: "Oma, kann es sein, dass du nicht lesen kannst?"

Foto: Anna-Lena Schlitt

"Wenn ich ein Formular ausfüllen musste, beim Arzt oder auf dem Amt, war ich wie gelähmt. Vor lauter Anspannung habe ich geschwitzt. Manchmal kamen mir die Tränen. Warum kannst du nicht lesen? Weshalb kannst du nicht schreiben? Das habe ich mich dann gefragt. Alle anderen können das doch. Ich machte mir Vorwürfe, dachte, es liegt an mir. Dabei konnte ich nichts dafür. Ich habe erst mit 51 Jahren lesen und schreiben gelernt.

Als Kind hatte ich nicht die Chance dazu. Ich bin das sechste von neun Geschwistern. Meine Eltern hatten kein . Wir lebten zu elft in einer Zweizimmerwohnung in Berlin-Neukölln. Meine Mutter gab ihr Bestes, aber neben Arbeit und Haushalt blieb kaum Zeit für uns Kinder. Mein Vater war Alkoholiker, er war eigentlich nie da. Wenn er zu Hause war, hat er uns geschlagen.

In der Schule hatte ich große Schwierigkeiten. Lesen und Schreiben fielen mir von Anfang an schwer. Am schlimmsten war es, wenn ich vor der Klasse aus dem Lesebuch vorlesen musste. Ich konnte die Silben einfach nicht zusammenziehen. Ich habe gestottert. Gerade einmal kleine Wörter wie "der, die, das" konnte ich erkennen. Vielleicht auch: "Wie geht es dir?"

Meine Mutter hat gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Sie wollte mir helfen. Aber wir hatten nie die Ruhe dazu. Wenn wir uns sonntags zum Üben an den Küchentisch setzten, waren meine Geschwister immer dabei. Sie lachten mich aus, wenn ich wieder einmal die Worte nicht fand.

Förderunterricht oder Nachhilfe gab es nicht. Die Schulen waren überfüllt, die Lehrer überlastet. Ab der dritten Klasse kam ich in die Sonderschule. Ich saß in der letzten Reihe, konnte nicht erkennen, was an der Tafel steht. Dass ich eine Brille brauchte, hat niemand bemerkt. Ich glaube, der Lehrerin war ich egal. Meine Mitschüler haben mich gehänselt. Sie beschimpften mich, sie sagten, meine Familie sei "asozial".

Ich war einsam. Ich hatte Angst, dass die anderen merken, was mit mir los ist. Menschen, die wussten, dass ich nicht lesen und schreiben konnte, haben mich gedemütigt. Das wollte ich mir nicht mehr antun.

Mit 15 Jahren bin ich zu Hause ausgezogen. Ich hatte meine eigene kleine Wohnung. In einem Hotel am Hermannplatz in fand ich einen Job als Zimmermädchen. Dass ich nicht lesen und schreiben konnte, hat niemanden interessiert. Putzen konnte ich ja. Später hatte ich einen Job in einer Kantine. Da habe ich manchmal auch kassiert. Das war kein Problem. Bis 500 zählen konnte ich."

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