Manchmal wäre Kathrin Denecke gern unsichtbar. Wenn sie mit ihrem Rollstuhl über den Bahnsteig fährt, spürt sie die Blicke der anderen, die scheuen, die neugierigen, die mitleidigen. Sie spürt die Unsicherheit, das Unwissen, die Überforderung: Darf ich schauen oder nicht? Soll ich helfen oder nicht? Dann würde sie gern zwischen den Reisenden verschwinden.
Denecke ist Anfang 40, seit acht Jahren sitzt sie im Rollstuhl. Vom einen auf den anderen Tag wollten ihre Beine sie nicht mehr tragen. Das Gefühl war noch da, doch die Kraft plötzlich weg. Was damals passiert ist, möchte sie nicht erzählen; lieber davon, was sich für sie verändert hat. Es sind ganz alltägliche Dinge wie Bahnfahren. Allein verreisen kann sie nicht mehr. Sie braucht Menschen, die ihr Gepäck transportieren, die Rampen auslegen und Hindernisse aus dem Weg räumen.
Es ist Sonntagmorgen, 8.30 Uhr. Deneckes Reise beginnt im Berliner Bezirk Neukölln: S-Bahn-Station Sonnenallee. Nach zwei Wochen Urlaub in Berlin will Denecke zurück nach Bremerhaven. Das Leben jenseits heimischer Routinen ist für sie besonders anstrengend. Unbekannte Wege kosten Kraft.
10.07 Uhr, Berlin-Spandau: "Achtung, Rollstuhl!", ruft die Schaffnerin, dann scheppert die gelbe Metallrampe auf den Bahnsteig. Im Zug drängelt eine Reisegruppe mit schwerem Gepäck, vom Gleis wollen zwei Fahrradfahrer zusteigen. Mitten im Gedränge: Denecke. Die Rampe ist für ihren Rollstuhl. Sie überbrückt den Abstand zwischen Zug und Bahnsteigkante. Nur wenige Zentimeter, ohne Hilfe unüberwindbar.
Ein Service-Mitarbeiter hievt Deneckes Gepäck in den Zug. Sie selbst folgt im Rollstuhl. Die Rampe, in der Eile schief angelegt, kippelt. Denecke muss neu rangieren. Das dauert, auf dem vollen Bahnsteig ist nicht viel Platz. Die Wartenden werden ungeduldig, wollen ihren Anschluss nicht verpassen oder sich einen Platz im Zug sichern. Gehetzte Blicke wandern vom Handy zu Denecke und wieder zurück. Einer schnauft genervt.
Wer die Rollstuhlfahrerin Kathrin Denecke begleitet, kann nicht nur einen Einblick in ihr Leben bekommen, sondern auch in das der Leute, die ihr begegnen. Achten sie auf andere? Sind sie offen oder nur neugierig? Verstecken sie sich, wenn es kompliziert werden könnte? Die Antworten auf diese Fragen erzählen einiges über einen Menschen.
"Man ist immer nur im Weg", sagt Denecke. Situationen wie diese sind ihr unangenehm. Sie möchte nicht unnötig die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, doch jetzt sind alle Augen auf sie gerichtet. Jede ihrer Bewegungen wird verfolgt.