Manche Frauen fühlen sich von den Umständen im Kreißsaal traumatisiert. Sind es Einzelfälle, oder steckt dahinter ein strukturelles Problem?
Bei der war sie zu groß, Ava verkeilte sich im Becken, erzählt Nadine Laule. Ava wird ihr einziges Kind bleiben. Laule holt eine Mappe hervor, darin ein Geburtsbericht und ein Befund. Zweieinhalb Jahre nach der Geburt diagnostizierte eine Psychologin bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung, wie sie zum Beispiel Soldaten erleiden. Früher hat Laule drei Abteilungen eines Möbelunternehmens geleitet, sie liebte Achterbahnfahrten und große Autos. Sie ist Reiterin, eine, die fest im Sattel sitzt - dachte sie. Jetzt arbeitet die 41-Jährige von zu Hause aus für einen Möbelausstatter.
Ein
Trauma, das nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im Kreißsaal entsteht?
Tatsächlich sprechen Frauen zunehmend von Gewalt bei der Geburt, vor
allem in sozialen Medien, zum Beispiel in der Facebook-Gruppe der "Roses
Revolution". "Initiative für eine gerechte Geburtshilfe in Deutschland"
nennt sich die 2013 ins Leben gerufene Bewegung. Auf ihrer Website ist
von Beleidigungen und Demütigung die Rede. Von Dammschnitten, von
Fixierungen, Prellungen, Einführen von Gegenständen in die Scheide ohne
Ankündigung oder Nachfragen. Manche Frauen sprechen deshalb gar von
Vergewaltigung.
Kommt es tatsächlich
zu mehr Gewalt in Kliniken und Geburtshäusern, oder sprechen Frauen vor
allem häufiger darüber, als Nebeneffekt von #MeToo? Haben einige auch
unrealistische Vorstellungen von einer Geburt? Wo beginnt Gewalt, was
ist medizinisch notwendig? Zahlen, Daten, wissenschaftliche Erkenntnisse
zu diesen Fragen gibt es bislang kaum. Aktuell untersuchen
Wissenschaftlerinnen der Universität Gießen das Phänomen, erforschen die
Entstehung und die Ursachen von Gewalt gegen Frauen während der Geburt.
Eine repräsentative Studie soll klären, wie häufig es solche Vorfälle
gibt.
Dass Gewalt während der Geburt heute für mehr Menschen ein Thema ist, lässt sich am Zulauf der Initiative Roses Revolution ablesen. Aktuell zählt sie 14.000 Likes auf Facebook. 2015 waren es noch 3600. Das ist das Jahr, in dem Nadine Laule schwanger wird. Alles läuft problemlos. Für die Geburt entscheidet sie sich für das St. Josefskrankenhaus in Heidelberg. "Sanft, sicher und selbstbestimmt", heißt es bei der Kreißsaalführung. Es hört sich gut an.
Ihre Beleghebamme
Maria Beck* arbeitet seit 40 Jahren in der Geburtshilfe.
An einem Samstag im Februar 2016 kommt Laule mit Wehen in die Klinik. In der Nacht fühlt sie sich alleingelassen, hat Angst. Erst nach 14 Stunden Wehen sei die Hebamme wieder erschienen und habe gesagt: "Wir machen eine PDA." Was die Nebenwirkungen der schmerzlindernden Periduralanästhesie (PDA) sein können, habe sie nicht erfahren. Im Geburtsbericht steht rosa markiert: "Die Patientin war sehr einverstanden." Laule sagt, heute wünschte sie, sie hätte Nein gesagt. Was ab halb elf am Sonntagvormittag berichtet wird, ist unlesbar. Beck sagt heute, es sei nicht ihre Aufgabe gewesen, Nadine Laule über die Nebenwirkungen der PDA aufzuklären, sondern die eines Anästhesisten. Warum das nicht passiert sei, könne sie fast vier Jahre nach der Geburt nicht mehr sagen.
Die PDA habe eine
Kaskade ausgelöst, so erzählt es Laule heute. Sie hat davon nach der
Geburt in Foren immer wieder gelesen. Durch den Schmerzhemmer
verschwinden die Wehen. Sie bekommt Wehenmittel. Die Herztöne des Kindes
verschlechtern sich. Zweimal nimmt die Hebamme Blut vom Kopf des
Ungeborenen ab, über Laules Scheide. Der Blutdruck der Gebärenden sinkt,
ihr wird ein Blasenkatheter gelegt, sie darf das Bett nicht mehr
verlassen. Benommen habe sie geglaubt, mitzubekommen, wie die Hebamme
über fünf Stunden hinweg immer wieder ihren Muttermund dehnte, in ihrer
Erinnerung, ohne mit ihr darüber zu sprechen. "Nein" habe sie, so Laule,
nicht mehr sagen können, auch nicht als die Hebamme mit ihren Händen
die Fruchtblase vom Rand der Gebärmutter löst. "Ich lag da wie ein
Fleischkloß, eine Hülle, die nicht mehr beachtet wurde", sagt Laule.
"Ich war komplett wehrlos."
Beck sagt,
ihre Pflicht sei es gewesen, das Wohl des ungeborenen Kindes zu sichern.
Und danach habe sie gehandelt. Für Beck, die von sich selbst sagt, sie
sei keine Psychologin, sondern Hebamme, sind Laules Vorwürfe
unverständlich. "Fachlich ist kein Fehler geschehen", sagt sie, als sie
noch einmal die Geburtsakte öffnet, mit der sich mittlerweile auch der
Deutsche Hebammenverband (DHV) beschäftigt. Weitere Schritte gegen sie
würden vorbehalten, sagt Beck. Nadine Laules Wahrnehmung ihrer Geburt
sieht sie als problematisch, auch deshalb, weil diese für sie
rufschädigend sein könne.
"Es tut uns leid, da haben wir komplett versagt"
Es ist 17 Uhr am
Geburtssonntag, als die Hebamme sagt: "Wir machen jetzt einen
Kaiserschnitt." Dieses Mal sagt Laule Nein, sie fleht die Hebamme an,
ihr noch ein bisschen Zeit zu geben: "Es ist doch mein Körper." Beck
sagt, sie habe nach dem Gesetz gehandelt, das bedeute: "Wenn eine
Pathologie auftritt, dann hole ich einen Arzt, dann bin ich seine
Assistentin, dann halte ich mich raus." Also zog sie einen Arzt hinzu.
Weinend
wird Laule für die Operation in das Untergeschoss gefahren. Wie ihr
später die neugeborene Tochter an die Schulter gehalten worden sei, habe
sie kaum noch mitbekommen. Sie muss sich erbrechen. "In dem Moment, in
dem ich eine Königin sein wollte, lief mir Kotze ins Ohr." Ihre Tochter
sieht sie erst eineinhalb Stunden später wieder, fertig angezogen. Beck
sagt: "Wir sind dem Herrgott dankbar, dass wir heute eine Frau durch
einen Kaiserschnitt gesund nach Hause entlassen können." Natürlich seien
Frauen dann oft trauriger als nach einer natürlichen Geburt.
Doch für Laule ist es
nach der Geburt nicht vorbei. Sie muss immer wieder daran denken. Wenn
sie an der Ampel wartet, ist sie wieder im Kreißsaal. Nachts kann sie
nicht schlafen. Ihr Mann sagt: "Du hast deine Fröhlichkeit verloren."
Ihr Vater: "Hab dich nicht so, dein Kind ist doch gesund." Ein halbes
Jahr später liest sie einen Facebook-Post einer Freundin: "Gegen
Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe". Die Geschichten, die
Laule auf der Facebook-Seite der Roses Revolution liest, ähneln ihren
eigenen Erfahrungen. Sie geht mit ihrem Geburtsbericht zu ihrer
Gynäkologin, die sie an ein psychologisches Zentrum überweist. Sie muss
lange warten, bis eine Therapeutin Zeit für sie hat. Dann, zweieinhalb
Jahre nach der Geburt, bekommt ihre Tortur einen Namen: Geburtstrauma.
Ein Trauma entstehe
durch eine Überwältigung, wenn die Abwehrmechanismen nicht mehr greifen,
erklärt Claudia Watzel. Die Diplom-Psychologin, selbst Mutter, gründet
gerade den Verein "Schwere Geburt". Das ist das Schlagwort, das Frauen
googeln, wenn wie bei Laule immer wieder Erinnerungen an Erfahrungen
auftreten, die sie aber noch nicht als Gewalt bezeichnen.
Doch was ist Gewalt während der Geburt eigentlich?
"Eine geringschätzende Betreuung
und Behandlung", sagt Ulrike Geppert-Orthofer, die Präsidentin des
Deutschen Hebammenverbands. Was bedeutet, dass der Verband auch die
Verhaltensweise der eigenen Berufsgruppe kritisch reflektiert.
"Misshandlung, Demütigung und Beleidigung, aufgezwungene oder ohne
ausdrückliche Einwilligung vorgenommene medizinische Eingriffe und eine
Verletzung der Intimsphäre", schreibt die Weltgesundheitsorganisation in
einer Stellungnahme von 2015.
"Gewalt im Kreißsaal beginnt dort, wo die
Gebärende nicht über sich selbst entscheiden kann, Fragen, Erklären,
Einwilligung, das sind entscheidende Aktionen", sagt Frank Louwen,
Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und
Geburtshilfe.
Claudia Watzel sagt: "Alles, was die Frau als Gewalt
empfindet." Auf die Frage, ob nicht jeder medizinische Eingriff eine
Grenzüberschreitung sein könne, antwortet sie: "Nein." Das Problem sei,
dass bei zu vielen Geburten unnötig interveniert werde. Das empfänden
viele Frauen als übergriffig. "In der Regel ist eine Geburt kein
Notfall."
Nadine
Laule spricht erst in ihrer Therapie von Gewalt. Mit ihrer Therapeutin
setzt sie sich ein Ziel: Sie will den Chefarzt der Klinik mit ihren
Erfahrungen konfrontieren. Im Rollenspiel üben sie das Gespräch. Dann
schreibt sie einen Brief.
Sehr geehrter Herr Dr. Kaufmann,
ich habe am 14.2.2016 ein Mädchen in Ihrer Abteilung entbunden und mich im Zusammenhang mit der Geburt meiner Tochter Ava in Ihrem Haus nicht gut betreut gefühlt: Ich habe sehr lange gebraucht und auch psychologische Hilfe in Anspruch genommen, um die Geschehnisse zu verarbeiten.
Ganz wichtig: Es geht überhaupt nicht um Vorwürfe oder Anklagen. Es ist für mich ein ganz wichtiger Abschluss, dass Sie mich anhören und sich Zeit für mich nehmen.
Er habe sofort
zurückgeschrieben, sagt Laule. Sie vereinbaren einen Termin. Bei dem
Treffen habe der Leiter der Gynäkologie den Geburtsbericht geduldig
gelesen, nachgefragt, zugehört. Am Ende habe Holger Kaufmann die beiden
Sätze gesagt, die für sie das Trauma aufgelöst hätten: "Es tut uns leid.
Da haben wir komplett versagt."
Auf Nachfrage öffnet der Chefarzt noch
einmal Nadine Laules Akte. Ihre Erzählung und das, was die Hebamme dort
notiert hat, klingen wie zwei verschiedene Geschichten. Das überrascht
Kaufmann nicht, wie er in einer E-Mail schreibt: "Die Wahrnehmung der
Vorgänge, Gefühle, der Zeit, von Schmerzen und der Umgebung zeigt oft
große Variationen und unterscheidet sich in der nicht trainierbaren
Situation Geburt substanziell von allen anderen Lebenserfahrungen vorher
und nachher." Geburten seien wie Reisen, die man nicht planen könne.
Man müsse offen sein, gemeinsam Hürden meistern. Gleichzeitig sollten
Geburtshelfer Experten sein.
Der schmale Grat zwischen Ermutigen und Entmündigen
"Wir sind keine
Übermenschen. Manchmal gelingt es uns besser, manchmal schlechter",
schreibt der Chefarzt noch. Damit es öfter besser gelingt, habe er
Laules vierseitigen Brief anonymisiert an seine Mitarbeiter verteilt.
Für solches Feedback
ist in Lisa Schneiders* Arbeitsalltag oft keine Zeit. Dabei arbeitet die
29-jährige Hebamme in einer Klinik mit einem guten Personalschlüssel,
wie sie betont. Sie möchte nicht, dass ihr echter Name oder der ihres
Arbeitgebers in der Zeitung steht. In dem Krankenhaus werden 3600 Frauen
im Jahr "entbunden". Schneider würde lieber sagen "im Geburtsprozess
begleitet". Doch für eine echte Begleitung fehle oft die Zeit. Vier
Hebammen rotieren in sechs Kreißsälen. Schneider sagt: "Es ist ein
strukturelles Problem."
In
Skandinavien oder Großbritannien ist eine Hebamme für 30 bis 50
Geburten im Jahr zuständig. "In Deutschland sind es 160 bis 180", sagt
Ulrike Geppert-Orthofer. Darin sieht sie die Ursache für Gewalt während
der Geburt. Die Arbeitsbedingungen für Hebammen hätten sich in den
vergangenen drei Jahren verschlechtert, das bestätige eine Umfrage des
DHV unter mehr als 1700 Hebammen.
Wie das im Klinikalltag aussieht, davon berichtet Lisa Schneider: acht Stunden im Kreißsaal plus Überstunden, noch nicht einmal Zeit zum Pinkeln oder Essen, manchmal zwölf Tage in Folge. Oft müsse sie sich zerreißen zwischen zwei oder drei gleichzeitig stattfindenden Geburten. Manchmal machten sie die Gewaltvorwürfe und all die Ratgeber über eine vermeintlich selbstbestimmte Geburt sauer. Die Traumgeburt sei nicht immer möglich. Komme es zu Komplikationen und müsse die Hebamme eingreifen, empfänden das viele Frauen als ihr eigenes Versagen, sagt Schneider. Sie fragten sich dann später häufig, ob es auch anders hätte laufen können. Ihre Kolleginnen, robustere Hebammen, sagten manchmal: "Reiß dich zusammen." – "Ist das schon übergriffig?", fragt Schneider. Es sei ein schmaler Grat zwischen Ermutigen und Entmündigen.
Zur
Lösung des Problems soll das Hebammenreformgesetz beitragen, das jetzt
in Kraft getreten ist. Als letztes Land in der Europäischen Union führt
Deutschland ein Studium für die Hebammenausbildung ein. Geburtshelfer
und Geburtshelferinnen sollen in Zukunft besser über den Stand der
Forschung informiert sein und veraltete Interventionen, die unter
Umständen als Gewalt empfunden werden, hinterfragen können. In dem
Studium soll es auch konkret um die Vermeidung von Gewalt während der
Geburt gehen. Zudem soll das Gesetz den Hebammenberuf attraktiver
machen. Offenbar hofft man im Bundesgesundheitsministerium, dass dadurch
Personalengpässe abgemildert werden. Gynäkologe Frank Louwen
bezweifelt, dass die Novelle die strukturellen Probleme lösen wird. Und
er sagt: "Ein Studium schützt nicht davor, dass Menschen, Ärztinnen,
Ärzte wie Hebammen, gewalttätig sind."
Heute ist Nadine Laules Tochter Ava drei Jahre alt. Durch die offene Balkontür blickt man auf einen Rasen, der jede Woche gemäht wird, und einen eigenen Spielplatz für Ava. Die Dreijährige hat im Wohnzimmer aus Duplo-Steinen ein Krankenhaus gebaut. Fragt man Laule, was ihr geholfen hätte, antwortet sie: "Dass Hebammen wirklich zu dem ausgebildet werden, was sie sein sollen: Geburtshelferinnen." Hebammen also, die Frauen während der Geburt begleiten, nicht entbinden. Und die sich dafür Zeit lassen können.
Wenn Laule heute,
drei Jahre nach der Geburt, an der Ampel steht, herrscht Ruhe in ihr. Es
tauchen keine Bilder aus dem Kreißsaal mehr auf. "Wir legen Sie zu den
Akten", habe ihre Therapeutin gesagt.
* Name von der Redaktion geändert
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