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Ann-Kristin Tlusty

Journalistin, Berlin

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Rezension

"Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben": Gleich zum Orgasmus

Der Kapitalismus sorgt sich auf seine Weise sehr um die weibliche Sexualität. Fortlaufend bringt er elektronische Innovationen für die klitorale und vaginale Lust hervor, nun gibt es sogar schon ein Gerät, das allein durch Druckwellen stimuliert – ohne Berührung. Innerhalb weniger Sekunden. Zum Orgasmus! 

Ziel dieses Womanizer Liberty sei es, verkündet das Unternehmen Wow Tech feierlich auf seiner Homepage, die "Orgasm Gap" zu schließen, also den messbaren Vorsprung männlicher Orgasmen auf der Skala heterosexueller Befriedigung aufzuholen. Orgasm Gap, das klingt nun beinahe wie Gender Pay Gap. Wird der Kampf um die Geschlechtergerechtigkeit also mit bonbonbunten Toys geführt? 

Die US-amerikanische Ethnografin Kristen Ghodsee vertritt eine andere Vision. Ihr Essay Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben ist nun in der deutschen Übersetzung bei Suhrkamp erschienen. Doch der Titel täuscht. Um Sex geht es auf den 277 Seiten beinahe: kaum. Stattdessen widmet sich Ghodsee in sechs Kapiteln Ideen wie Grundeinkommen, Jobgarantie, Kinderbetreuung, Quoten, kurz: Maßnahmen, die Frauen zu ökonomischer Unabhängigkeit verhelfen. Somit erleichtern sie, das ist Ghodsees zentrale These, die Erfüllung der weiblichen Lust, dies wiederum als Indikator für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. "Unregulierter Kapitalismus ist schlecht für Frauen", schreibt sie, "und wenn wir einige sozialistische Ideen aufgreifen, haben Frauen ein besseres Leben."

In der Manier des soziologischen Ich-Essays verwebt Ghodsee persönliche Erfahrung mit dem großen Drumherum. Beziehungsweise: Von persönlichen Anekdoten kommt sie Kapitel für Kapitel auf grundsätzliche Gleichstellungsthemen. So kontrastiert sie etwa das Leben einer Freundin, die nach ihrer Schwangerschaft zu Hause bleibt und mit ihrem Ehemann darüber streitet, ob sie ausreichend für Sex zur Verfügung steht und also seine Kreditkarte ausleihen darf, mit ihrem eigenen Kampf um eine Balance zwischen Vollzeitjob und Mutterschaft.

Die Nöte, Mängel und Freiheitsberaubungen der kapitalistischen Gegenwart sind, folgt man Ghodsee, gerade für Frauen immens – und jene regulierteren (gar sozialistischen) Gesellschaftssysteme in Geschichte und Gegenwart, die vielen US-Amerikanern als äußerer Kreis der Hölle gelten, liefern Anschauungsmaterial, wie es in dieser Hinsicht besser und – ja – auch freier geht. Bereits im August 2017 hatte Kristen Ghodsee in der New York Times unter dem gleichen Titel einen Artikel veröffentlicht, der in den USA großen Wirbel erzeugte. Darin versuchte sie am Beispiel zweier Zeitzeuginnen – eine vor, eine nach dem Mauerfall sozialisiert – zu zeigen, dass Frauen in der Sowjetunion trotz aller Widrigkeiten des Regimes (sexuell) freier waren, als ihre Töchter es nach 1990 werden sollten.

Im Buch nun bemüht sich Ghodsee noch einmal erkennbar, nicht als Diktaturfan missverstanden zu werden. "Es bedarf keines autoritären Regimes, um eine Politik zu betreiben, die den Konflikt zwischen Kinderwunsch und Arbeit entschärft." Für eine Auseinandersetzung mit frühsozialistischer Theorie und realsozialistischer Vergangenheit durchaus überraschend geht es außerdem nicht nur um die Doppelbelastung von Lohn- und Fürsorgearbeit, sondern auch um weibliche Bosse und darum, wie es um deren Macht auch im Sozialismus nicht allzu gut bestellt war.

In der Sowjetunion sollten Quoten und eine gezielte Förderung von Frauen für Geschlechterparität sorgen, ein Ende der männlichen Hegemonie führten sie jedoch nicht herbei. "Die Praxis hielt der Rhetorik nicht immer Schritt", stellt Ghodsee trocken fest – und auch gleich klar, dass sie nicht jenem Aberglauben anheimfallen mag, wonach Frauen in Führungspositionen aufgrund irgendeiner essenzialistischen Disposition bessere (humanere, für alle und nicht nur enorm privilegierte Frauen profitable) Politik und Führung vollbrächten. Natürlich sei der Erfolg einiger weniger Frauen, so Ghodsee, noch lange kein Gewinn für alle – beispielsweise für Frauen in prekarisierten Arbeitsverhältnissen, die zudem of color und somit von Rassismus betroffen sind. Irritierend ist an dieser Stelle, dass in Suhrkamp-Übersetzungen aus dem Englischen 2019 noch immer von "farbigen" Frauen die Rede ist.

Deutsche Teilung als interessantes Experiment

Denn natürlich geht es erst einmal nur um Folgendes: "In Gesellschaften mit einem ausgeprägten Maß an Geschlechtergleichheit, mit starkem Schutz der reproduktiven Freiheit und mit weitgespannten sozialen Sicherungsnetzen müssen sich Frauen so gut wie nie Gedanken darüber machen, welchen Preis ihre Sexualität auf dem freien Markt erzielen wird."

Die deutsche Teilung stelle für dieses Thema ein "interessantes natürliches Experiment" dar, schreibt Ghodsee, handele es sich doch um eine 41 Jahre lang getrennte, demografisch jedoch identische Bevölkerung. Sexualwissenschaftliche Studien aus DDR-Zeiten bescheinigen ostdeutschen Frauen eine höhere sexuelle Zufriedenheit als Frauen im Westen, und auch die Forschung nach 1990 besagt, dass Frauen im Osten häufiger zum Orgasmus kamen. Gründe hierfür sieht Ghodsee eben in der ökonomischen Unabhängigkeit, auch jener in der Ehe: Eine ostdeutsche Frau, die mit ihrem Liebesleben unzufrieden war, hatte es im Vergleich zur westdeutschen Hausfrau des Alleinverdienermodells leichter, ihren Mann zu verlassen – und der ostdeutsche Mann somit mehr Anlass, auf die Bedürfnisse einer Frau einzugehen. Sex follows economics, könnte man sagen.

Keine feministischen Erlösungsfantasien

Die Autorin widmet sich auch den übrigen Ostblockstaaten und arbeitet die unterschiedlichen Herangehensweisen an die sogenannte Frauenfrage heraus. So entsteht ein differenziertes Bild der staatssozialistischen Sexual- und Gleichstellungspolitiken, die sich trotz des gemeinsamen theoretischen Fundaments unterschieden haben: Den patriarchalen Strukturen in Rumänien und Albanien steht eine oftmals überraschend liberale Politik in Polen, der Tschechoslowakei, Bulgarien und der DDR gegenüber. Sexualkundebücher, die die Anatomie der Klitoris erklären, und Konferenzen, die sich der weiblichen Lust widmen, erschienen im Westen utopisch. In einigen Ländern des Warschauer Pakts waren sie schon in den Sechzigerjahren Realität.

Ghodsee verklärt diese progressive Handhabung der Geschlechterfrage jedoch nicht. Die Förderung von Frauen im Ostblock war schließlich zumeist nicht feministischen Erlösungsfantasien, sondern dem schlichten Bedarf an Arbeitskräften geschuldet. 

Haben wir etwas verpasst?

Dass sich Ghodsee an ein amerikanisches Publikum wendet, merkt man zum einen daran, dass ihr Wertmaßstab an einen Staat gewöhnt ist, in dem es weder eine gesetzliche Krankenversicherung noch einen gesetzlichen Mutterschaftsurlaub gibt. Dänemark, Schweden und Finnland bezeichnet sie als "die erfolgreichen demokratisch-sozialistischen Länder Skandinaviens", sodass man sich als mitteleuropäische Leserin kurz fragt, ob man da denn irgendwas verpasst hat.

Leider verliert sich Ghodsee auch oftmals in der Empirie, gibt Studiendesigns brav wieder und wirkt allzu referierend. Und während die Passagen über Theorie und Praxis des Sozialismus ein wenig mehr populärsachbuchtypischen Drive vertragen hätten, bleibt ihre einleitende Privatempirie oftmals blass. Man meint die Stimme des Lektorats mitzulesen, die nach einem "starken Ich" verlangt hat. An anderer Stelle erscheint Ghodsees Argumentation hingegen flapsig: "Direkt oder indirekt sind Sex und Geld im Leben einer Frau miteinander verknüpft – ein Relikt aus der langen Geschichte unserer Unterdrückung", schreibt sie. Die aufgeregte Leserin, die diese These sofort untermauert wissen möchte (indirekt?), wird enttäuscht. Der schmissige Titel löst sich also nur bedingt ein, was wohl auch der Tatsache geschuldet ist, dass er nicht von der Autorin selbst, sondern vom Verlag gewählt wurde, wie Ghodsee in einem Interview verrät. 

Das alles wusste schon Friedrich Engels

Auch durch etliche Wiederholungen erscheint der Text teils wenig gedankenstark: Dass Stalin den jungen Emanzipationsbemühungen des sowjetischen Staates ein jähes Ende bereitete, dass der Frauenanteil der Beschäftigten in der Sowjetunion zur Zeit des Kalten Krieges dennoch weitaus höher lag als in den westlichen Demokratien, dass Frauen zwar nicht die Zentralkomitees, dafür aber teils das Banken- und Rechtswesen, die Hochschulen und die Medizin dominierten, dass mit Walentina Tereschkowa 1963 die erste Kosmonautin ins All flog und dass die Politik die osteuropäischen Frauen ab den Neunzigerjahren bewusst "zurück an den Herd drängte" – das hat man dann irgendwann verstanden, und fragt sich beinahe, ob die Redundanz einen didaktischen Lerneffekt erzielen soll.

Stattdessen hätte der Essay gut und gerne in andere Themengebiete vordringen können: Die heteronormativen Pfeiler kann man Ghodsees Argumentation zwar kaum übelnehmen, sie benötigt die Frau-Mann-Binarität, um zu funktionieren. Aber hatten beispielsweise lesbische Frauen auch besseren Sex im Sozialismus? Die Freizügigkeit des Ostens, erwähnt Ghodsee bloß, habe für LGBT-Rechte nicht gegolten.

Der Rückgriff auf sozialistische Ikonen wie Alexandra Kollontai, Clara Zetkin und Flora Tristan verleiht dem Essay derweil einen beinahe feierlichen Charakter. Jede einzelne wird mit Porträtfoto vorgestellt, sodass man Lust auf die Lektüre dieser avantgardistischen Kämpferinnen bekommt. Etwas verstörend ist lediglich, dass die Autorin Kollontai als "eine auffallend hübsche junge Frau" beschreibt und von der "entzückenden 26-jährigen Walentina Tereschkowa in Uniform" die Rede ist (man fühlt sich unwillkürlich an schwülstige Sahra-Wagenknecht-Porträts erinnert).

Und apropos sozialistische Ikonen: Ganz neu ist das natürlich alles nicht. Dass es für die sexuelle Befreiung der Frau egalitäre Rahmenbedingungen brauche, stellte Friedrich Engels bereits Ende des 19. Jahrhunderts fest. Die DDR-Propaganda verstand den Staatssozialismus als beste Voraussetzung für aufrichtige Liebe und Sexualität – und betonte daneben die Warenförmigkeit der westdeutschen Kopulation. Und seit dem Mauerfall diskutiert ja schlichtweg die ganze deutsche Öffentlichkeit aufgeregt über die vermeintlich lustvolleren Frauen aus den neuen Bundesländern.

Dementsprechend ist der Essay erkennbar eher gedacht für ein US-amerikanisches Publikum, vor dem man heute wieder von "Sozialismus" sprechen kann, ohne direkt "Gulag!" entgegengeschleudert zu bekommen. Die Expansion des Jacobin-Magazins und der internationale Ruhm der Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez zeugen davon, dass eine Rückbesinnung auf sozialistische Konzepte Anklang findet. Im Jahr 2015, in dem Bernie Sanders seine Kandidatur für die US-Präsidentschaftswahl bekannt gab, war "Sozialismus" der am häufigsten gesuchte Begriff im englischsprachigen Onlinewörterbuch Merriam-Webster. Ghodsee zitiert eine Studie, nach der 43 Prozent aller Amerikanerinnen und Amerikaner im Alter von 18 bis 29 eine prosozialistische Einstellung haben – etwa 20 Prozent mehr als in den anderen Alterskohorten.

Gleichheit tötet die Erotik nicht

Doch auch in Deutschland gibt es mit Ghodsee was zu lernen, beziehungsweise: zu erinnern. Mit ihrem Rückgriff auf sozialistische Theorie liefert die Autorin ein Gegengewicht zum immer mal wieder aufkommenden Diskurs darüber, ob Gleichheit die Erotik tötet. Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben ist eine wichtige Lektüre für all jene, die in der Geschlechterfrage noch immer einen identitätspolitischen Nebenwiderspruch sehen möchten – und ein Plädoyer gegen den neoliberalen Konsumfeminismus.

Es mag nämlich sein, dass sich die Orgasm Gap durch den Gebrauch förderlicher Toys schließen ließe. Nichts gegen den Womanizer und die liberty, die er verschafft. Doch die Vision, dass Frauen Männern wirklich gleichgestellt sein könnten, als Sexualpartnerinnen ebenso wie als Mütter, Bürgerinnen und Arbeitnehmerinnen, erscheint dann doch überzeugender als libidinöse Symptombekämpfung.

Kristen R. Ghodsee: "Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben". Edition Suhrkamp, Berlin 2019, 277 Seiten, 18 €


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Erstellt am 22.05.2020
Bearbeitet am 22.05.2020

Quelle
https://www.zeit.de/kultur/literatu...

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