Einer der Männer, die vor dem Fenster vorbeihuschen, könnte Schenjas Mörder sein. Die Passanten haben den Blick auf die Pfützen gesenkt. An trüben Tagen schaut niemand hinauf zu den prächtigen Fassaden an der Deribassowskaja-Straße. Es kommen sowieso viel weniger Gäste nach Odessa seit der Katastrophe. Luka Losnitzkij hat gerade erzählt, dass der Mann, der verdächtigt wird, am 2. Mai vor einem Jahr auf seinen Sohn geschossen zu haben, im November aus dem Hausarrest entlassen wurde. Ermittler haben eine Anklage gegen ihn vorbereitet, aber bis jetzt nicht bei Gericht eingereicht. Nun läuft der Kerl frei herum.
Losnitzkij ist ein stattlicher Mann Ende Fünfzig mit dichtem Haar und glatter Rasur. Er handelt mit Pfefferkörnern, die in Containern aus Madagaskar unten im Schwarzmeerhafen einlaufen. Sein Sohn Jewgenij, den er zärtlich Schenja nennt, war auch sein Geschäftspartner und bester Freund. An diesem Morgen ist Losnitzkij zur Verabredung in ein Café gekommen, weil er darüber sprechen möchte, wie ausgerechnet Schenja ein Teil der Tragödie von Odessa wurde. An dem Tag als den Sohn die Bauchschüsse trafen, wurden in der Stadt 48 Menschen getötet. Am Anfang prügelten sich nationalistische Fußballfans und prorussische Aktivisten in der Innenstadt. Dann schossen sie aufeinander. Und am Ende schlugen Flammen aus den Fenstern des Gewerkschaftshauses. Dutzende Menschen erstickten darin, alle Anhänger der prorussischen Seite.
Das Unglück traf die Stadt wie ein Schlag. Sicher, in den Wochen zuvor waren Wut und Gewalt durch den Südosten des Landes gezüngelt. Auch in Odessa, das 1794 auf Geheiß der russischen Zarin Katharina gegründet wurde, hatten sie nach dem Regierungswechsel in Kiew den „Russischen Frühling" ausgerufen. Anfang März standen ein paar hundert Menschen mit weiß-blau-roten Flaggen vor der Regionsverwaltung und riefen: „Odessa ist eine russische Stadt!". Sie forderten ein Referendum über einen autonomen Status für die Region, doch fast alle Abgeordneten im Regionsrat stimmten dagegen. Und weil anders als in den Städten des Donbass keine Bewaffneten kamen und die Verwaltung stürmten, beruhigte sich die Lage wieder. Prorussische und proukrainische Aktivisten demonstrierten eine Weile um die Wette und schlugen sich manchmal, aber die größte Demonstration in der Beinahe-Millionenstadt Odessa zog nur ein paar Tausend Menschen an - unter ukrainischen Fahnen.
Es schauten alle Augen nach Slawjansk und Donezk, wo Separatisten mit Maschinengewehren regierten und Geiseln nahmen, als in Odessa der Brand ausbrach. „Das war ein Massaker!", schrie es sofort aus Moskau. Wladimir Putins Sprecher sprach von Blut an den Händen der ukrainischen Regierung. Ukrainische Faschisten hätten im Gewerkschaftshaus von Odessa gezielt und massenhaft friedliche russische Bürger ermordet, sagten die Moderatoren des russischen Staatsfernsehens. In Kiew hieß es dagegen, der russische Geheimdienst habe die Tragödie inszeniert und seine eigenen Leute getötet, um das Verbrechen der Ukraine in die Schuhe schieben zu können. Die ehemalige ukrainische Ministerpräsidentin Julija Timoschenko reiste sofort nach Odessa und fand - wie die anderen Politiker in Kiew - kaum Trost für die Familien der Opfer und keine Worte der Versöhnung. Sie lobte den Einsatz der „Patrioten", denen es gelungen sei, „Verwaltungsgebäude zu schützen". Es war der Moment, in dem Odessa in zwei Lager zerfiel: Patriot oder Verräter, Majdan oder Anti-Majdan...