
Wieso zwei Rentner plötzlich elf Flüchtlinge im Haus hatten – Hier integriert Frau Hoppe! ©Ann-Christin Baßin
Terror, Flüchtlinge, Katastrophen: Profilbild ändern und das war's? Wie Solidarität wirklich funktioniert
Ohne eine Prise Brüderlichkeit wären wir nur Menschen, die durch Zufall am selben Ort leben. Erst Solidarität macht aus uns eine Gesellschaft. Doch wie entstehen Gemeinschaftsgefühle? Und warum ist Solidarität so verdammt flüchtig?
Von Ann-Christin Baßin
Die Welt befindet sich im Schleudergang: Umweltkatastrophen, Terroranschläge, Kriege, Flüchtlingskrise, Trump, AfD, Globalisierung und Digitalisierung. Wir leben in einer Zeitenwende. Da bleibt mancher auf der Strecke. Angst macht sich breit. Vor allem bei den Älteren, die nicht Schritt halten können. Aber auch bei den Jüngeren, denn im Verteilungskampf stehen Alte und Kinderlose gegen Junge und Eltern. Die Baby-Boom-Generation kommt ins Rentenalter. Das stellt die Solidarität zwischen Alt und Jung auf die Probe. Sie bröckelt. Hier noch sichere Renten, dort Job-Hopper, die sich von einer befristeten Stelle zur nächsten hangeln. Zukunft ungewiss.
Solidarität wandelt Angst in Sicherheit um
Vielen Menschen fehlt das Gefühl von Zusammengehörigkeit und Füreinander-da-sein. Denn es tröstet total, zu erleben, dass es Leute gibt – häufig sogar völlig Fremde – denen man nicht egal ist. Das gibt einem wieder Sicherheit.
Schade nur, dass erst alles richtig beschissen werden muss, bevor sich etwas ändert. Dass wir durchaus noch in der Lage sind, uns für andere zu engagieren, hat die Flüchtlingswelle in den vergangenen zwei Jahren gezeigt, denn gleichzeitig ging eine Welle der Hilfsbereitschaft durchs Land. In Deutschland leben seit langem Einwanderer, Flüchtlinge, Vertriebene und Aussiedler. Doch im letzten Jahr hatten laut Statistischem Bundesamt rund 18,6 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund, der größte Zuwachs seit Beginn der Erhebung im Jahr 2005. Einwanderung macht aber auch unsolidarisch. Das hat der AfD-Schock bei der letzten Bundestagswahl bewiesen.
Das zeigt mal wieder: Obwohl der Mensch zur Kooperation neigt, tendiert er auch zu Misstrauen und Vorurteilen. Doch nicht Vorteilsstreben und Eigennutz ist der eigentliche Motor unseres Soziallebens, sondern Kooperation und Hilfsbereitschaft. Und unser Gehirn belohnt uns mit Freude, wenn wir Gutes tun. Das beweisen Forscher weltweit immer wieder. Wir können nur im Zusammenleben mit anderen existieren. Solidarität ist also eine Art sozialer Schmierstoff, der eine Gesellschaft zum Funktionieren bringt. Leider vergessen wir das oft. Aber wie lässt sich unser Engagement für andere fördern – in Zeiten, in denen unsere Gesellschaft auf dem Spiel steht wie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr?
Soziales Verhalten ist ein Evolutionsvorteil
Gemeint ist das Zusammenleben da, wo es eben nicht durch Gesetze geregelt wird, sondern durch das Verhalten eines jedes einzelnen. Gegenseitige Unterstützung ohne Eigennutz. Also etwas für andere tun, auch wenn wir nicht erwarten können, davon selbst einen Vorteil zu haben. In seiner edelsten Form zeigt sich Solidarität, wenn Menschen Mühe oder sogar persönliche Nachteile dafür in Kauf nehmen.
Solidarität gibt es seit Menschengedenken. Schließlich bietet soziales Verhalten einen Evolutionsvorteil: Man überlebt so leichter, als wenn jeder allein durch den Wald schleicht. Im Mittelalter haben es die Bruderschaften, Ordensgemeinschaften und andere Zusammenkünfte vielen Leuten erleichtert, den Härten der damaligen Zeit zu trotzen. Brüderlichkeit war auch eine der Forderungen der Französischen Revolution. Sie steht für Zusammenhalten, Versöhnen, Helfen. Heute oft beschworen und gefordert, aber es scheint, dass sich dieser Wert in die Geschichtsbücher zurückzieht.
Große Emotionen nach Terroranschlägen
Erst Katastrophen lösen wieder eine Woge der Betroffenheit, Solidaritätsbezeugungen und tatkräftiger Hilfe aus. Das zeigt sich vor allem im Internet. Warum machen da plötzlich alle mit? Wie kann man das Phänomen erklären? „Wenn man sich mit den anderen, den Opfern oder den Angehörigen der Opfer solidarisch zeigt, ist das eine Krisenbewältigung“, erklärt Prof. Dr. Ulf Tranow, Soziologe an der Uni Düsseldorf. „Es ist eine Art kollektive Trauerarbeit. Außerdem hilft es uns selbst, mit solchen Gefahren und Risiken umzugehen. Man kann so Vertrauen schöpfen in eine funktionierende Gemeinschaft. Ob Partnerschaften oder Freundschaften funktionieren, kann man überprüfen. Aber nicht, ob auch eine Dorfgemeinschaft oder ein Verein – oder im Großen die Europäische Union funktioniert. Das erkennen wir meistens erst in Krisensituationen.“
Helfen ist ein guter Selbstzweck
Obwohl es im Netz eher anonyme Interaktionen sind, stellen sich durchaus Gemeinschaftsgefühle ein. Dazu der Soziologe: „Die Leute helfen nicht nur, weil sie in Zukunft auch auf Hilfe hoffen, sondern es beruhigt sie auch selber. Man wähnt sich mit anderen in einer Gemeinschaft, die sich gegenseitig unterstützt. Und das gibt Vertrauen in die Zukunft, selbst wenn die Euphorie und Emotionalität im Netz schnell abklingt.“
Doch es sind nicht nur die großen medialen Ereignisse, die uns bewegen. Es gibt Solidarität auch tagtäglich im Alltag, man muss nur genau hinschauen: die Nachbarin, die für die behinderte alte Dame einkauft, Studenten, die in einer WG leben, Familien, die sich gegenseitig unterstützen, sharing communities, die das Teilen statt Kaufen propagieren. Auch unsere Staatsform ist solidarisch: Es gibt Renten- und Krankenkassen und den Länderfinanzausgleich. Die Gründerväter der Europäischen Union haben den Solidaritätsgedanken in der Verfassung verankert, gegen Nationalismus, Feindschaft und Krieg. Dennoch läuft nicht alles rund. Hier hat offenbar das Vertrauen gelitten, gemeinsam mehr zu erreichen als allein.
Wie kann man das Gefühl der Gemeinschaft verstärken?
Rituale und Symbole spielen eine große Rolle. „Symbole sind sozusagen Speichermedien für Solidarität“, sagt Prof. Dr. Ulf Tranow. „Zum Beispiel die Vereinsembleme oder Fahnen beim Fußball. Auch politische Bewegungen haben Fahnen, Gewerkschaften haben ihre Embleme, es gibt bestimmte Lieder und Ikonen, die für Solidarität stehen. Auch das gemeinsame Erinnern an bestimmte Ereignisse am Familientisch, kann ein Symbol für Gemeinschaftlichkeit sein. Das ist wichtig, weil sich Solidarität so immer wieder erneuern kann. Sobald diese Symbolik aufgerufen wird – wenn etwa die Fahren geschwenkt werden – ist das immer auch eine Situation, in der man sich seiner Solidarität vergewissert.“
Wie solidarisch wollen wir sein?
Es geht auch um Werte und Emotionen, die wir teilen. Solidarität ist aber auch immer eine Frage der Praxis. Erst dann zeigt sich, ob Solidaritätsbekundungen ernst gemeint sind oder nicht. Dazu müssen wir den Hintern vom Sofa kriegen, Haltung zeigen und über uns hinauswachsen. Dann können wir zu dem zurückfinden, was der Mensch auch ist: ein kluges, verstehendes Wesen, das Größe in sich trägt.
Experten-Kasten:
Aus einem Tümpel wird ein reißender Strom. Wie entsteht Solidarität im
Internet?
Social-Media-Experte Felix Beilharz, erklärt,
die das Phänomen entsteht:
„Solidarität im Netz entsteht wie andere virale Effekte auch und ist genauso
schwer zu prognostizieren oder gar zu planen. Wenn zeitgleich zu dem Thema ein
anderes Thema aufkommt, dass das erste medial oder emotional überlagert, fällt
die Solidaritätswelle geringer aus. Meistens entstehen solche Effekte, wenn
frühzeitig Multiplikatoren darauf aufmerksam werden und das Thema teilen (z.B.
Blogger, Prominente, Social Media Influencer, etc.). Da diese Personen hohes
Vertrauen genießen, übernehmen deren Abonnenten dann schnell diese Inhalte, und
die Welle kommt in Gang. Wenn eine gewisse Grundmenge erreicht ist, geht die
virale Welle oft richtig ab. Denn niemand will der erste sein, der etwas teilt
– wenn ich einen Inhalt aber bereits mehrfach in meinem Newsfeed sehe, fühle
ich mich darin bestätigt, ihn ebenfalls zu verbreiten. Das Risiko, damit falsch
zu liegen, wurde mir ja bereits abgenommen.
Zudem teilen Menschen Inhalte nicht ganz uneigennützig: Oft geht es darum, bei Freunden
positiv dazustehen. Wer social-medial Anteil an einem Thema nimmt, zeigt sich
als herzensgut, mitfühlend und sozial engagiert – Attribute, mit denen sich
viele Menschen gern assoziieren.
Und schließlich triggern Themen, die Solidaritätswellen auslösen, auch ganz
schlicht menschliche Emotionen wie Mitgefühl, Trauer, Sehnsucht oder Heimweh.
Es ist aus der Forschung hinlänglich bekannt, dass Emotionen ein grundlegender
Faktor für Viralität sind, egal ob es um freudige Themen geht oder eben auch um
traurige. Solche Emotionen in Kombination mit der Erkenntnis, dass sich
offenbar auch andere davon berührt fühlen, können einen starken Impuls zur
Anteilnahme geben und damit eine starke Solidarität im Netz auslösen.
Die sozialen Medien haben das erst so richtig ermöglicht, da jeder jeden Inhalt
mit ein paar Klicks öffentlich sichtbar verbreiten kann. Früher ging das
allenfalls durch E-Mails und da eher in einem beschränkten Wirkungskreis. Und
vor der E-Mail haben sich solche Themen im persönlichen Gespräch verbreitet,
was ebenfalls funktioniert, aber sehr viel länger dauert. Heute kann so etwas
in wenigen Stunden Millionen von Menschen erreichen. Das kann im Schlechten
passieren (wie z.B. bei Fake News oder Hetze), aber eben auch im Guten (wie
beim Thema Solidarität).“
Info-Kasten:
Was macht Menschen zu Helfern?
Sie schreiten ein, wenn alle anderen weggucken. Aber warum werden manche Menschen zu Helden, wenn andere z.B. in der U-Bahn verprügelt werden, während die Masse teilnahmslos zusieht? Nun ist nicht jeder zum Helden geboren, der sich todesmutig für andere einsetzt. Hilfe kann viele Gesichter haben: Der eine spendet Geld, ein anderer opfert seine Freizeit, ein Dritter macht das Helfen zum Beruf. Aber viele machen nichts davon.
Verschiedene Forschungen zeigen, dass Hilfsbereitschaft auch in unseren Genen liegt. Menschen, die mehr ehrliches Interesse und Mitgefühl zeigten, haben einen erhöhten Oxytocin-Spiegel. Aktivitäten zum Wohl anderer sprechen dieselben Hirnareale an, die auch bei freudvollen Tätigkeiten wie Sex und Essen reagieren. Verantwortlich dafür ist das Gen COMT-Val in unserer DNA. Es enthält den Bauplan für ein Enzym, das den Botenstoff Dopamin im Hirn aktiviert. Von diesem Neurotransmitter vermuten Forscher schon seit längerem, dass er in enger Verbindung mit unserem Sozialverhalten steht.
Werte wie Hilfsbereitschaft vermitteln sich aber auch durch gelebte Praxis: Wenn z.B. eine Mutter nie überlegen musste, ob sie einem Menschen hilft, sondern einfach gehandelt hat, dient sie als Vorbild für das eigene Verhalten. Diese Werte wurden dem Nachwuchs dann also ganz praktisch verinnerlicht und haben nichts mit Bildung zu tun.
Nur selten sind es die heroischen Lichtgestalten, die als Retter in der Not agieren, sondern oft die Leute von nebenan, die fürsorglich sind und einen starken Gerechtigkeitssinn haben. Ausschlaggebend sind außerdem die Situation: Fühle ich mich imstande, zu helfen? Ist mir das Opfer sympathisch? Kenne ich es? Auch das Umfeld spielt eine große Rolle: Wie reagieren mein Partner, mein Chef, meine Freunde?
Ein internationales Forscherteam fand heraus, dass Hilfsbereitschaft sogar das Leben verlängern kann – und zwar um mindestens drei Jahre. Warum? Vermutlich, weil das Engagement und soziale Kontakte gut für die Psyche sind – und das wiederum wirkt sich positiv auf die Gesundheit aus.
Helfen macht glücklich und steigert unser Selbstwertgefühl. Indem wir für andere aktiv werden, machen wir die Erfahrung, dass wir etwas bewegen können, wichtig und wertvoll sind. Ob bei der großen Flutkatastrophe, bei der Tafel oder im Umgang mit Flüchtlingen: Ist die Not präsent und greifbar, aktiviert das manchen, der bislang passiv war. Und weil der Mensch ein Herdentier ist, schwappt die Welle weiter. Wir orientieren uns an Freunden und Bekannten. Wenn die sich plötzlich engagieren, sind wir auch bereit, es zu tun.
Ein weiterer Aspekt: Wir bekommen in den meisten Fällen Dankbarkeit und Anerkennung, wenn wir uns für andere einsetzen. Wir spüren wieder die Verbundenheit mit anderen Menschen. Und das fühlt sich richtig gut an.